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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Beobachtungen zusammengestellt, die weit schlimmere Fälle betrafen. Er erzählt, daß eine junge Engländerin infolge einer nächtlichen Vision zu der Ueberzeugung kam, daß sie an demselben Tage mittags sterben würde; sie traf demnach ihre Anordnungen und starb zu der angegebenen Stunde, trotz der Bemühungen zweier Aerzte, die erschienen waren um ihr die thörichte Vorstellung zu benehmen. Nach Angabe des Irrenarztes Brière de Boismont giebt es Familien, in denen jeder seinen Tod voraussagt. Liebault hat einen Geistlichen gekannt, der einer solchen Familie angehörte, auch selbst sein Lebensende angab und sich nicht irrte. Der Irrenarzt Josef Franck erzählt, daß er so viele Fälle erlebt habe, wo Menschen ihre Krankheit und ihren nahen Tod genau voraussagten, daß er zum Glauben an die Ahnungen der Seele genötigt sei.

Für uns ist es wohl zweifellos, daß ein von einer festen Vorstellung erfaßter Mensch seinen Organismus in Verwirrung bringt und im Sinne dieser Vorstellung verändert. Solche Einflüsse der Suggestionen wurden namentlich bei Geisteskranken beobachtet. Die Irren reden sich nämlich manchmal den Tod so nachdrücklich ein, daß sie ihren Körper in krankhafte Verhältnisse versetzen, deren Endergebnis unmöglich ausbleiben kann. „Wenn wir in unserer ärztlichen Praxis,“ berichtet Liebault, „heilbaren Schwerkranken begegneten, die immer wieder sagten, ich bin verloren, ich werde nicht wieder gesund werden, ich werde an dem und dem Tage sterben, so waren wir uns fast sicher, sie zu verlieren. Die Erinnerung an den Tod eines bereits bejahrten Mannes, der seit dem Tode seiner Frau melancholisch geworden war, ist uns stets im Gedächtnis geblieben. Von einer Lungenentzündung genesen, wiederholte er unaufhörlich, daß sein Lebensende nahe sei. Bei unserem letzten Besuche erwiderte er uns ironisch: ja, ich befinde mich besser, aber Sie werden mich nicht wiedersehen. Noch an demselben Tage traf er seine letzten Anordnungen und gab die Stunde seines Todes an. Durch den festgehaltenen Gedanken, zu sterben, hatte er seine Nervenkraft zu dem vorausgesehenen Augenblicke erschöpft.“

Durch diese Beobachtungen wird ein klares Licht auf die bekannten Ahnungen des eigenen Todes geworfen, die, wenn sie eintreffen, auf die Zeugen und die große Menge so verblüffend wirken und dem Aberglauben neue Anhänger zuführen.

Die betreffenden Kranken sahen nicht das Künftige voraus, die Dinge, die da kommen sollten, waren ihnen wie anderen Sterblichen völlig verhüllt, aber durch die Macht der Vorstellung führten sie das, was sie zu ahnen glaubten, herbei. Dieses Voraussagen des eigenen Todes ist keine Ahnung, man könnte es eher eine Art unbewußten Selbstmords nennen.

Die Wirkung der Selbstsuggestion wird besonders verhängnisvoll, wenn sie sich mit dem Gefühl der Furcht verbindet. So ist es zur Genüge bekannt, daß Menschen, die von einem der Tollwut verdächtigen Hunde gebissen wurden, unter Symptomen der Wasserscheu erkranken können, selbst wenn der Hund an dieser schrecklichen Krankheit nicht litt. Eine derartige falsche oder, wie man früher sagte, hypochondrische, auf Einbildung beruhende Tollwut ist öfters bei Menschen beobachtet worden.

Ein Arzt, der die Leiche eines an Wutkraakheit gestorbenen Mannes seciert hatte, wurde von einer solchen Furcht, sich angesteckt zu haben, befallen, daß er Appetit und Schlaf verlor; alle Flüssigkeiten erregten ihm Schrecken, und wenn er sich zum Trinken zwang, fühlte er den Schlund sich zusammenschnüren, als ob er ersticke. Drei Tage lang strich er durch die Straßen wie verzweifelt. Es gelang, den Kranken durch freundlichen Zuspruch von seiner Erregung zu befreien. Daß aber eine solche eingebildete Hundswut einen tödlichen Ausgang nehmen kann, beweist folgender Fall. Zwei Brüder wurden von einem tollen Hunde gebissen. Der eine mußte unmittelbar darauf nach Amerika verreisen und blieb gesund; der andere erkrankte inzwischen wirklich an dem schrecklichen Leiden und starb. Man verheimlichte dem abwesenden Bruder die wahre Todesursache. Nach langer Zeit kehrte er in seine Heimat zurück und erhielt durch Unbesonnenheit einer Person Kenntnis davon, daß sein Bruder der Tollwut erlegen war; durch diese Nachricht wurde er derart erschüttert, daß auch er erkrankte und unter allen Zeichen der Wasserscheu starb.

Ein Bundesgenosse der Suggestion ist ferner der Aberglauben selbst. Wer in seinem Banne steht, ist ein Sklave, ein willenloses Opfer verkehrtester Vorstellungen, die er mit vernüuftigen Gründen nicht zu widerlegen vermag. Diese Verquickung der beiden unheimlichen Mächte spielt namentlich im Leben der Naturvölker eine verhängnisvolle Rolle. Diese glauben fest an Dämonen und Zauberkünste und leben in steter Furcht vor Geistern und Geisterbeschwörern. Inmitten der Naturvölker gestalten sich darum Drohungen, die einem aufgeklärten Menschen geradezu lächerlich erscheinen, zu einer furchtbaren Waffe.

Unter den Eingeborenen der Sandwichinseln bestand eine religiöse Gemeinschaft, die sich den Besitz der Himmelsgabe zuschrieb, durch ihr Gebet die Feinde töten zu können. Wenn jemand sich ihren Haß zuzog, so zeigte sie ihm an, daß sie mit ihren Verwünschungen gegen ihn beginnen würde. Meist genügte diese Erklärung, um den Unglücklichen vor Schreck sterben zu lassen.

Auf den Hervey-Inseln benutzen Zauberer einen „Seelenfänger“, um die Seele ihres Feindes zu fangen. Es ist dies eine ungefähr drei Meter lange Schnur aus Kokosfasern, an welcher Schlingen befestigt sind. Man hängt dieses Gerät an einem Baume auf, an dem das Opfer vorüber muß. Erblickt nun der Betreffende die Schnur, so glaubt er fest, daß seine Seele in derselben hängen geblieben ist, und regt sich dadurch so auf, daß er krank wird vor Angst und Schrecken und bald stirbt. Die Eingeborenen selbst betrachten dieses Instrument als ein sicheres Mittel, um jemand aus der Welt zu schaffen. Hier haben wir also auf der untersten Kulturstufe ein Mordmittel, das durch einen „psychischen Insult“, wie sich die Wissenschaft ausdrückt, durch Suggerieren des bald eintretenden Todes den abergläubischen Nächsten zu töten vermag!

Verständlich wird uns die Möglichkeit solcher gewaltsamen Tötungen ohne Anwendung mechanischer Mittel, wenn wir uns in den Gedankenkreis der Naturmenschen versetzen. Sie haben keine Ahnung von natürlichen Ursachen der Krankheit; diese erscheint ihnen vielmehr stets als etwas Dämonisches, das von außen in den Körper hineinfährt und auch von Zauberern und Hexen gegen den Menschen losgelassen werden kann. Kein Wunder, daß bei den Naturvölkern Suggestionskrankheiten nicht selten sind und auch auf suggestivem Wege durch Medizinmänner geheilt werden.

Die Indianer in Victoria an der Westküste Nordamerikas glauben z. B., daß ein böser Dämon, ein „wilder Schwarzer“, dem Menschen das Nierenfett rauben könne und daß der also Beraubte dem sicheren Tode verfallen sei, wenn es dem Medizinmanne nicht gelingt, das Nierenfett dem Dämon im magischen Fluge abzujagen und es dem Kranken wieder an den rechten Ort zu setzen. Der Reisende Thomas war Zeuge einer solchen Kur. Ein Indianer war gerade auf der Jagd, als durch irgend einen Zufall die Vorstellung in ihm erweckt wurde, daß ihm der „wilde Schwarze“ sein Nierenfett gestohlen habe. Müde und schwach kehrte er in das Lager zurück. Der Mann schien totkrank und man rief den Zauberarzt herbei. Unter allerlei geheimnisvollen Ceremonien gelang es dem Heilkünstler, dem Dämon das Nierenfett abzujagen und es dem Kranken an die richtige Stelle zu setzen. Der Kranke erhob sich alsdann, zündete seine Pfeife an und rauchte ruhig in der Mitte seiner Freunde – er war geheilt.

Unter solchen Umständen kann der Medizinmann seinen Einfluß auf die Gemüter seiner Landsleute leicht mißbrauchen, was auch in der That oft genug vorkommt. Der Missionar Crosby berichtete, um nur noch ein Beispiel anzuführen, daß ein junger Indianer seiner Station in Vancouver einst einen Medizinmann neckte. Dieser rief ihm im Zorne zu: „Du wirst in sechs Wochen sterben!“ Der junge Mann ging, aber die Drohung des zauberkundigen Mannes lastete schwer auf ihm. Er wurde nach und nach fest überzeugt, daß der Zauberarzt ihm einen magischen Stein ins Herz geschossen habe, der seinen Tod unfehlbar herbeiführen müsse. Er wurde stiller und stiller und zuletzt wirklich krank; aller Zuspruch war vergeblich und der Lästerer starb noch vor Ablauf der sechswöchigen Frist.

Dieser Fall ist ebenso erklärlich wie das Sterben der Menschen, die den Seelenfänger erblickt haben. Hier wie dort sind Krankheit und Tod die Folgen einer Suggestion, und je mehr wir in den Berichten der Reisenden blättern, desto mehr drängt sich uns die Ueberzeugung auf, daß bei den Naturvölkern solche durch Suggestion bewirkte Leiden eine bei weitem wichtigere Rolle spielen als bei civilisierten Völkern, und während bei uns die Tötung durch „psychische Insulte“ zu den seltensten Ausnahmen gehört, kommt sie unter den armen Wilden häufig vor. Die Wahngebilde des Aberglaubens gestalten sich dort in der That zu unerbittlichen tötenden Geistern.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_780.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2023)