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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Augen, wenn wir zurückkamen und wenn wir unbefangen weiter plauderten und uns neckten, dann seufzte sie.

Der Tag vor Sylvester war gekommen, am erstem Januar mußte Robert Nordmann wieder abreisen. Da machten wir uns noch einmal, zum letztenmal, auf den Weg, etwas stiller als sonst, denn die Base hatte geweint. Sie begleitete uns die Treppe hinunter und sah uns vom Hofthor aus nach, bis wir im Wald verschwanden. Sie hatte die Hand über die Augen gelegt, so blendend war der Schnee.

„Nun sitzt sie wieder da und macht sich Sorgen,“ sagte ich zu meinem Begleiter, der nachdenklich neben mir schritt.

„Die braucht sie sich leider nicht erst zu machen, Fräulein von Sternberg,“ antwortete er, „die sind schon vorhanden, aber ich kann sie ihr nicht abnehmen. Ich möchte alles thun für die gute alte Frau, aber das, was sie verlangt, darf ich nicht thun. Denken Sie nur, gestern abend, nachdem ich fortgegangen war, haben ihre alten ungelenken Finger an mich geschrieben und heute in aller Morgenfrühe brachte Hübners Gymnasiast das Schriftstück. Ich habe bis jetzt noch nichts Schriftliches von der Base in Händen gehabt, und ich hätte lächeln mögen, wenn mir’s nicht so – so herzbrechend wahr und klar wäre, was sie alles schreibt. Uebrigens, Fräulein Anneliese, Sie haben’s ihr angethan, ihr drittes Wort ist: mein armes Annelieseken!“

„Was habe ich zu thun damit?“ fragte ich rasch.

Er sah mich an. „Eigentlich nichts, und doch –“

„Aber wieso denn?“

„Nehmen Sie sich in acht, da kommt ein Graben – hopsa!“ rief er und stützte mich. „Der Schnee macht alles Ungleiche gleich, Fräulein Anneliese,“ fuhr er fort, „kommen Sie näher an meine Seite – so – und geheu Sie etwas laugsamer, bitte! Es ist so schön unter diesen Weihnachtsbäumen, die der Herrgott selber aufgeputzt hat. Sehen Sie, wie die Tannenzapfen vom Rauhreif blitzen, just wie wenn sie oben in der Lausche aus Glas gesponnen wären und was hat der Schnee für wunderbar blaue Farbentöne im Schatten!“

„Was hab’ ich mit den Sorgen zu thun, die sich die Base um Ihretwillen macht?“ fragte ich hartnäckig.

„O, Sie vergessen – Sie gehören jetzt zur Familie, weiter nichts,“ scherzte er.

„Ich gehöre nicht zur Familie Wollmeyer,“ rief ich ärgerlich. „Und das ist’s auch nicht – Sie wollen mir ausweichen.“

„Sie gehören doch zur Familie Wollmeyer,“ sagte er plötzlich sehr ernst, „und eines Tages werden Sie mich nicht mehr leiden mögen und wenn ich Sie fragen würde: gehen Sie mit in den Wald spazieren? so würden Sie mir den Rücken kehren – kehren müssen, denn ich werde Ihnen erscheinen wie ein Kirchenschänder –“

„So ein Unsinn!“ rief ich und warf ihm eine Handvoll Schnee am Gesicht vorüber, „jetzt will ich nichts mehr davon hören.“

„Aber nicht wahr,“ fragte er, ohne meine Neckerei zu bemerken, „man kann auch seine Feinde achten und verstehen, Fräulein von Sternberg, nicht wahr?“

„Gewiß – aber nicht lieben,“ sagte ich unbedacht, und Herr Wollmeyer stand vor meinen Augen, der achtungswerteste Bürger Westenbergs, wie die Komtesse ihn einst genannt hatte, und nach meiner Ueberzeugung mein bitterster Feind. „Es ist sehr schwer, was Christus für unsere Feinde verlangt, die Liebe; ob viele Menschenherzen es vermögen, ihre Feinde zu lieben?“

„Nicht lieben – das wäre das Beste in diesem Falle – das Beste!“ sagte er leise, „oder ein großes Kämpfen würde beginnen, ein Kämpfen, dem man kaum gewachsen ist.“ Und als ob er sich herausreißen wollte aus diesen Gedanken, fing er an zu pfeifen, einen Marsch oder irgend etwas Lustiges, und dann sprach er von gleichgültigen Dingen.

Ich aber wußte plötzlich, was er meinte, und als wir in der Nähe des Futterplatzes standen und heimlich ein paar Rehe beobachteten, die zierlich das Heu aus der Raufe nahmen, sagte ich unvermittelt: „Einen Fall weiß ich, der Sie mir als meinen Feind erscheinen ließe, selbst wenn ich Sie verstände und achtete.“

Er sah mich groß und fragend an.

„Wenn Sie etwas thäten, das dazu beitrüge, meine Mutter noch unglücklicher zu machen als sie schon ist!“

„Sie ist unglücklich?“ klang es leise zurück.

„Ich glaube, sie muß es sein – Sie wissen es so gut wie ich, daß sie es sein muß.“

Er sah wieber zu den Rehen hinüber. „Ich möchte Ihrer Mutter die Hände unter die Füße breiten“ sagte er.

Ich zitterte vor Angst und Aufregung. „Erzähleu Sie mir doch alles,“ bat ich. „Daß Ihnen Unrecht geschehen von dem Wollmeyer, dem Manne meiner Mutter, das hat mir die Base anvertraut, das weiß ich –, aber –“

„Heute nicht, ach, heute nicht!“ unterbrach er mich. „Lassen Sie mir doch diese paar Tage voll Frieden, bitte, bitte! Wenn Sie wüßten – seit dem Weihnachtsabend – was ich seit dem Weihnachtsabend durchgekämpft habe, Sie fragten mich nicht.“

Er ging hastig einige Schritte vorwärts und kam dann ebenso hastig zurück; sein hübsches frisches Gesicht hatte einen so vergrämten qualvollen Zug, daß es völlig verändert schien. Ich stand am Stamm einer Buche; er hatte mit einer Gerte, die er unterwegs abgeschnitten, den Schnee von einem Baumstumpf entfernt, nun setzte er sich darauf und stützte den Kopf in die Hand.

„Seien Sie versichert, daß Sie kein vorschnelles liebloses Urteil zu erwarten haben. Sagen Sie es mir!“ bat ich wieder. „Sie können sich nicht denken, wie ich unter der Unkenntnis aller dieser Verhältnisse leide; Sie wissen nicht, in welch peinlicher Lage ich mich überhaupt befinde. Sie kann durch Ihr Hinzukommen kaum schwerer werden und wenn auch – mir ist die schlimmste Gewißheit lieber als dieses Ahnen, Fürchten.“ Ich war dicht vor ihn getreten. .„Bitte!“ wiederholte ich noch einmal.

„Es kann nicht schwerer werden, sagen Sie – vielleicht für Sie nicht, für mich aber hat Ihr Hinzukommen so viel erschwert –“

„Ach, sprechen Sie nicht so weiter, sagen Sie mir doch einfach die Wahrheit!“

Da griff er nach meinen Händen, und sie an seine Augen haltend, sprach er leise. „Er hat meinen Vater ehrlos gemacht – Sie wisseu, wen ich meine. Mein Vater hat sein Weib, seine Heimat verloren durch diesen Bubenstreich. Drüben hatte er zwar Glück, was man so Glück nennt: er erwarb ein Vermögen, der arme schüchterne Schullehrer, und hinterließ ein bedeutendes Kapital, eine der größten Fabriken Chicagos, aber die Sehnsucht nach Deutschland quälte ihn bis zur Stunde, wo er die Augen schloß. Und diese Sehnsucht habe ich geerbt; acht Wochen nach seinem Begräbnis bin ich abgereist. Das letzte Wort, das mein Vater zu mir sprach, war: ,Mach’ mich wieder ehrlich drüben, reise hin! Du kannst es, Du bist nicht so ein ungewandter Mensch, wie ich es war. Du hast alles dazu, hast die Kenntnisse, das Geld, die Jugendkraft.‘ Und ich bin gekommen, ich habe nicht allein alles das, was mein Vater aufzählte, ich habe auch die Beweise, daß man meinen Vater schuldlos verdächtigte, das heißt, die Base muß sie haben. Ich bin gekommen in der Absicht, drüben meine Zelte abzubrechen und sie in Deutschland wieder aufzubauen, wenn möglich hier in der Heimat. Ich bin gekommen, weil ich krank war vor Sehnsucht nach meinem Vaterlande, weil mir bei aller Arbeit und allem Erfolg immer nur das eine vorgeschwebt hat, ein deutsches Heim im deutschen Land. Und dazu muß ich meinen ehrlichen Vaternamen wieder haben, weil – – ach, lassen Sie mich aufhören, Fräulein von Sternberg!“

„Und um dies zu erreichen wird meine Mutter einen gebrandmarkten Namen tragen müssen,“ antwortete ich ruhig.

Er ließ meine Hände sinken. „Sehen Sie, da sind wir –“ murmelte er.

„Sie meinen, ich mißbillige Ihr Vorgehen?“ fragte ich. „O, ich würde Sie nicht verstehen, wenn Sie anders handeln wollten, Robert Nordmann!“

„Anneliese!“ sagte er leise.

„Was geht meine Mutter, was gehe ich Sie denn an?“ sprach ich weiter, laut und hart, und die Brust that mir weh, aus der diese Worte kamen. „Die Ehre Ihres Vaters, Ihres Namens, die muß Ihnen die Hauptsache sein. Ich begreife, daß es peinlich für Sie ist, mich kennengelernt, freundlich mit mir geplaudert zu haben, aber seien Sie versichert, ich verstehe Sie vollkommen, ich würde zweifellos – ja, das weiß ich bestimmt – ich würde ebenso handeln. Und nun kommen Sie, lassen Sie uns heimgehen; die Sonne ist fort und mich friert.“

Er erhob sich, schwerfällig wie ein alter Mann; als wär’ er nicht mehr der nämliche elastische Mensch, so ging er neben mir, ohne ein Wort zu sprechen. Rasch, die ganze Landschaft in fahle Schatten tauchend, kam die Dämmerung, der Schnee knirschte unter unsern Tritten und die Sterne stiegen am kalten klaren Frosthimmel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_790.jpg&oldid=- (Version vom 26.9.2023)