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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

empor in funkelndem Glanz. In den Häusern des Dorfes brannten schon die Lichter, als wir aus dem Walde traten und den Feldweg dahinschritten. Neben dem blaugrauen Schneelicht des Winterabends erschienen die erhellten Fenster tief orangerot. Auch die Base hatte schon ihr Lämpchen angezündet; sonst wartete sie stets damit, bis wir kamen, heute war alles anders. Sonst fröhliches Geplauder, heute gingen wir nebeneinander ohne ein Wort. Der rosige Schleier der Unbefangenheit, der bis jetzt unsere Beziehungen umspielte, den wir fest, sehr fest gehalten hatten, er war zerrissen; nüchtern und kalt, mit verzerrtem Gesicht sah die Zukunft uns an.

Ein paarmal versuchte er zu sprechen, aber es war nur ein kurzer Laut, den er hervorbrachte. Am Hofthor blieb er stehen. „Gute Nacht, Fräulein von Sternberg!“

„Wie, Sie wollen nicht mit heraufkommen?“

„Darf ich denn noch?“

„Was denken Sie von mir! Weil Sie Ihres Vaters Wunsch erfüllen, weil Sie eine Rechtfertigung suchen für ihn, soll ich, die Sie vollkommen versteht, böse sein? Ich bitte Sie, Herr Nordmann, sehen Sie völlig ab von dem, was ich dabei empfinde, in Ihrer Macht liegt’s nicht, Mama ein trauriges Schicksal zu ersparen. Weder Sie noch ich tragen die Schuld an dem, was kommen mag.“

„Das ist wahr, aber es wird mir schwer, Sie so traurig zu sehen.“

In diesem Augenblick rief die Base aus dem Flurfenster nach uns.

„Kommen Sie, verderben Sie der alten Frau nicht den Sylvesterabend!“ bat ich, vorangehend.

Mit schweren Schritten kam er hinter mir drein.

„Anneliese,“ sagte die Base, „zwei Briefe sind da.“

„Von Mama?“ fragte ich und ergriff beide Schreiben zugleich. Nein, sie waren nicht von Mama; das eine zeigte die Handschrift meines Stiefvaters, das andere die der Komtesse. Ich habe immer das Unangenehmere zuerst erledigt, so erbrach ich zunächst Herrn Wollmeyers Brief.

„Reisen Sie am ersten Januar so frühzeitig von Langenwalde ab, daß Sie den um zehn Uhr fälligen Schnellzug erreichen. Wir erwarten Sie abends neun Uhr hier. Die Base wird Sie begleiten.   Wollmeyer.“

So, das war ja sehr diktatorisch! Die Zähne zusammenbeißend, öffnete ich den Umschlag des anderen Schreibens.

 „Mein liebes Kind!

Ich erwarte von Dir, daß Du diesmal nicht widersetzlich bist. Len’ braucht Dich; sie ist sehr still, sehr teilnahmlos, sie hat entschieden Sehnsucht nach Dir. Also komm bald! Ich bin wie zerschlagen von allem Weihnachtstrubel, habe Deine kleine Hilfe vermißt dieses Jahr. Auf Wiedersehen! Es grüßt Dich

Deine Tante Komtesse D.“  

„Wir sollen morgen nach Westenberg reisen, Base, ganz früh.“

„Wie?“ fragte die alte Frau.

Ich wiederholte die nämlichen Worte.

„Meine Güte, wer sagt denn das?“ rief sie ärgerlich.

„Herr Wollmeyer.“

„Aber das ist ja gar nicht möglich!“ klagte sie, die Hände zusammenschlagend.

„Es muß möglich sein, Base, denn Mama hat Sehnsucht nach mir.“

„Ist sie krank?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und ich soll mit? Erst soll ich fort aus Westenberg, jetzt soll ich wieder hin!“

„Gewiß zum Schutz für mich, Base. Ich könnte ja ganz gut allein reisen, aber – hier steht’s schwarz auf weiß.“

„Große Güte, wie soll ich nur fertig werden. Wir müssen ja schon um fünf Uhr fort morgen früh,“ jammerte sie und lief, so eilig sie konnte, in das Nebenzimmer.

Robert Nordmann hatte indessen bewegungslos am Ofen gestanden.

„Ich werde helfen müssen,“ murmelte ich und schickte mich an, der Base zu folgen. Aber sie litt mich nicht drinnen. Ich solle um Gotteswillen gehen, sie verliere sonst ganz den Kopf; sie werde schon alles allein einpacken, sie und die Rike von Hübners. Keine Möglichkeit ihr zu helfen; so kam ich wieder zurück und setzte mich an das Fenster der Wohnstube. Es war dunkel, denn die alte Frau hatte die Lampe mitgenommen, dunkel und still, bis auf das Ticken der Uhr. Der Mann am Ofen regte sich nicht.

Wie im Schlaf hatte ich diese letzten Wochen verlebt in den stillen Bergen, wie im tiefen Schlaf, der mir einen schönen kurzen Traum geschenkt. Nun war das Erwachen gekommen, ein böses Erwachen; die Süßigkeit des kaum entschwundenen Traumes machte die Wirklichkeit noch öder. Was würde nun werden? Wann würde Robert Nordmann seine Abrechnung halten? So lange er die Uniform trug, nicht, hatte er gesagt – Mama hatte eine Gnadenfrist, bevor sie erfuhr, daß sie eines Betrügers Frau sei. Ueberleben würde sie das nicht, ich fühlte es, aber niemand konnte es ihr ersparen. Unwillkürlich faltete ich die Hände. Einen Ausweg – einen Ausweg, lieber Gott!

Die Thür zum Nebenzimmer öffnete sich jetzt ein wenig. „Ach, Robert,“ rief die Base, „einen Augenblick!“

Langsam ging er hinüber und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Weder sie noch ich hatten acht darauf, daß die Thür nicht wieder fest geschlossen wurde. Ich hörte zunächst ein leises Gemurmel, völlig unverständlich für mein Ohr, dann seine laute ruhige Stimme. „Und wenn es tausendmal so wäre, wie Du sagst, Base, erst recht müßte ich dann so handeln. Oder glaubst Du, ich böte einem geliebten Mädchen den besudelten Namen? Denkst Du, ich ertrüge es, die Leute mit Fingern auf uns zeigen zu sehen, zu hören, wie sie sagen: ,Das ia ja der Nordmann, dessen Vater steckbrieflich verfolgt ist, weil er gestohlen hat, des Nordmann, der gesessen hat!‘ Und nun bitte ich Dich, lassen wir die Erörterungen. Du verwirrst mich mit Deinen Einwürfen, und ich habe einen klaren Kopf jetzt nötiger denn je.“

Ich war gegangen, um die Thüre zu schließen, damit ich von dem Gespräch nichts mehr vernähme. Sie merkten es nicht, nun ich es that. Aber ich hatte genug gehört. Ach, deshalb! Er liebt, er will sich verloben. Es schien mir mit einmal so kalt im Zimmer, daß mir die Zähne zusammenschlugen.

Plötzlich vernahm ich die Stimme der Base, welche tief aufseufzte. „Wollte Gott, ich wäre tot! Ach, Robert, Robert! Meine Anneliese, meine arme kleine Anneliese!“

Da sprang ich empor in zorniger Aufwallung, die mich meiner ruhigen Ueberlegung völlig beraubte; mit einem Ruck war ich drinnen und stand mit drohender Gebärde vor der alten Frau. „Wir wollen kein Mitleid, ich nicht und die Mama nicht!“ rief ich. „Herr Nordmann handelt wie recht und billig, und wenn er sich von Ihnen bereden läßt, diesen Wollmeyer zu schonen, so würde ich selbst vor diesen hintreten und sagen, daß er betrogen hat!“

Die Base war auf mich zugeeilt und faßte meine Schulter. „Jesus, Annelieseken! Robert, nun hat sie es gehört!“

Er kam herüber und nahm meine Hand. „Leben Sie wohl, Fräulein Anneliese,“ sagte er, dann wandte er sich und ging. Ich sah noch, wie die Thür hinter ihm zufiel, vor meinen Augen wogte ein roter feuriger Schein, ich tastete nach der Base wie nach einem Halt, dann schwand mir die Besinnung.

Als ich wieder erwachte, lag ich auf meinem Bett; die Lampe war tief heruntergeschraubt und auf einem Fußschemel hockte die alte Frau. Sie hatte eine Schüssel mit Wasser neben sich stehen, in der eine Kompresse lag. Bei meiner Bewegung fuhr sie empor und beugte sich über mich.

„Annelieseken, reden Sie doch man bloß ein Wort. Kennen Sie mich denn, Annelieseken?“

Mühsam besann ich mich. „Wo ist Herr Nordmann?“ fragte ich dann hastig.

„Ach Gott„ Kind, regen Sie sich doch nicht auf! Er ist fort. O, Anneliese, wär’ er doch drüben geblieben, wär’ er doch nie wieder gekommen!“ jammerte sie.

„Er thut recht!“ sagte ich kurz.

„Ja, ja!“ schluchzte sie. „Aber darum ist’s doch so schwer!“

„Gehen Sie zu Bett, Base, bitte, bitte! Ich bin müde und möchte schlafen.“

Endlich ging sie. Ich lag in dieser Neujahrsnacht wachend und hörte die Glocken der Kirche, die um Mitternacht geläutet wurden. Wo mochte er sein? Und dann barg ich den Kopf in die Kissen und mir rannen schwere heiße Thränen aus den Augen.

O, thörichte Anneliese, für Dich giebt’s kein Glück!


Am andern Morgen bei völliger Finsternis reisten wir ab; die Base bis zur Unkenntlichkeit vermummelt in Hübners alten Jagdpelz, den er ihr für die Schlittenfahrt zur Querslebener

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_791.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2022)