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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Bahnstation geliehen hatte. Das Wetter hatte umgeschlagen, ein unnatürlich lauer Wind fuhr durch die Bäume, und der Schnee auf den Wegen war weich und naß. Hübners hatten das Frühstück besorgt und packten uns mit betrübter Miene in den Schlitten. Mir war grenzenlos bang zu Mut, als ich den guten Menschen die Hand zum Abschied reichte, so wie einem sein mag, der aus sicherem Hafen auf das wilde bewegte Meer hinausfährt. Ach, wie öde war es in mir geworden seit gestern!

„Adieu, gnädiges Fräulein, wir wünschen, daß sich die Frau Mama bald wieder ganz wohl fühle,“ sagte Frau Hübner.

Die Pferde zogen an. Die Schlittenglocken klangen erst etwas wirr durcheinander, dann schickten sie regelmäßig ihren Dreiklang in die Nacht hinaus, die Laterne des Gefährts warf ihren Schein über den Weg, und vorwärts ging’s in den Kampf des Lebens.

Die Base schien zu schlafen, sie saß da in dem riesigen Pelz, ohne sich zu rühren; der Kutscher vorn auf dem Bock schlief wohl auch und die Pferde trotteten schlaftrunken den wohlbekannten Weg dahin. Da bewegte sich etwas hinter mir und, mich erschreckt zur Seite wendend, gewahrte ich einen Soldatenmantel und darüber ein wohlbekanntes Antlitz unter der Militärmütze. Robert Nordmann hatte sich auf den Schlitten geschwungen.

„Sie?“ fragte ich.

„Ich will Ihnen Lebewohl sagen,“ flüsterte er. „Einmal müssen Sie mir die Hand noch geben, müssen versprechen, daß Sie ein freundliches Andenken bewahren wollen an – diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr.“ Seine Stimme klang bewegt, seine Augen hatten einen ernsten bittenden Ausdruck.

„Was auch kommen möge,“ sagte ich, „immer werde ich an diese Tage denken.“

„Immer?“

„Immer, Herr Nordmann.“

Der Schlitten glitt weiter mit der schlafenden Base, dem nickenden Kutscher, hinein in den windigen Wintermorgen. Kein tröstlicher Stern am Himmel, nichts als das Licht der Laterne, das den Weg dürftig erhellte; so wie wir in die Zukunft hineinsahen, so war es auch um uns her – kein Stern, kein heller Schein.

„Anneliese,“ flüsterte er dicht an meinem Ohr, „Anneliese, vergessen Sie nicht, daß ich bei dem, was kommeu muß, tausendmal unglücklicher sein werde als Sie.“

„Aber warum?' murmelte ich und hatte die Empfindung, als ob der Wind, der eben meinen Schleier vom Gesicht wirbelte, glühend sei, so klopfte mir das Blut in den Schläfen.

„Warum? Wissen Sie es wirklich nicht, Anneliese?“

Ich bog den Kopf zurück, wenden konnte ich ihn nicht, so knapp war der Platz neben der Base, und ich hätte sie nicht wecken mögen in diesem Augenblick, um die Welt nicht. Ich konnte es nicht hindern, daß mir ein paar Thränen über die Wangen liefen, thörichte heiße Thränen. „Sie sollen nicht unglücklich sein, Sie sollen es nicht so schwer nehmen,“ sagte ich halb erstickt.

Da fühlte ich meinen Kopf zwischen seinen Händen und fühlte brennende Lippen auf meinen Augen. „O wir Zwei,“ sagte er, „wir armen Zwei!“ Und dann ein Kuß auf meinen Mund, ein langer Kuß - - -

Der Platz hinter mir war leer, noch ebenso dicht die Finsternis; vor meinen Augen aber war es hell geworden, nicht wie von der aufgehenden Sonne, nein, wie von einer scheidenden, die in höchster Purpurglut hinter schweren dunkeln Wolken versinkt. „Leb wohl!“ sagten die glühenden Strahlen, „jetzt kommt die Nacht.“ Und von Scheiden und Meiden klangen die Schlittenglocken durch den sturmgeschüttelten brausenden Wald, während ein noch schlimmerer Sturm an meiner Seele rüttelte. O wir Zwei, wir armen Zwei! Leben und Tod in einem Atemzuge! Wir hatten uns gefunden, uns zu verlieren – um fremde Schuld!

Ich kann’s heute nicht mehr sagen, wie ich den Reisetag überstand. Die ganze Welt erschien mir anders; um viele Jahre gealtert kam ich mir vor, wie jemand, der weiß, daß er sterben muß mitten in der Maienzeit. Ich dachte nicht mehr an ein Hinausgehen unter fremde Menschen, ich wollte nur noch eins: bei meiner armen Mutter bleiben, so lange Gott uns zusammenließ, ihr in den kommenden schweren Zeiten ein Trost zu sein und heimlich das kleine Fünkchen Glück zu hüten, das mir der liebe Gott geschenkt, wenn es auch nie zur Flamme werden durfte.

So saß ich da, erschöpft von der seelischen Erregung, unfähig, zu sprechen. Die Base, die in dem warmen Coupé den Pelz nicht mehr trug, schwieg ebenfalls, und die Falten ihres Gesichts waren tiefer denn je. Am Bahnhof in Westenberg erwartete uns der Wagen, aber sonst empfing uns niemand. Die Herrschaft habe Besuch, sagte der Kutscher. Schweigend rollten wir durch die finstern Gassen und hielten vor dem Hause. Die obere Fensterreihe war erleuchtet, aber nur ein Stubenmädchen erschien uns zu begrüßen. Hüstelnd trippelte die Base voran in unsere Zimmer.

„Mama war hier,“ sagte ich, als ich eintrat. Man hatte geheizt, den Tisch gedeckt, und unter der brennenden Lampe stand ein Veilchensträußchen. Und ehe ich noch den Mantel abgeworfen hatte, kamen auch Schritte durch das Vorzimmer, liebe, liebe Schritte, und im nächsten Augenblick lag mein Kopf an ihrer Brust.

„Meine liebe Anneliese,“ flüsterte sie, „nun bist Du wieder da!“

„Und bleibe bei Dir, Mama, immer, immer,“ sagte ich mit einem Ausdruck, in dem die ganze Erregung meines Herzens lag.

Sie strich langsam über meine Stirn und antwortete nicht. „Das wäre wohl schön,“ meinte sie endlich und sah wie abwesend an mir vorüber, „aber - aber - –“

„Ach, kein ,aber‘, liebe Mama! Wir wollen nichts weiter thun als die Gegenwart genießen, das heißt – unser beider Zusammensein. Ihr lebt doch gewiß jetzt recht still?“ setzte ich verlegen hinzu, denn die Base hatte mir gesagt, daß Mama mich gewiß so vermissen würde, weil sie viele Zeit in ihrem Zimmer auf dem Ruhebett zu verbriugen genötigt sei.

Sie sah mich verwundert an. „Ach nein, Anneliese, wir haben häufig Gäste, und deshalb. ist’s mir so lieb, daß Du da bist und mir ein wenig zur Seite stehst; und der Base bin ich auch sehr dankbar, daß sie mitgekommen ist. Sie nimmt mir gewiß wieder manche Last ab.“ Sie sagte das alles so müde, so apathisch, als lohne es sich kaum, darüber zu sprechen. Dann fragte sie etwas lebhafter, und eine Purpurglut überflog das schmale leidende Antlitz: „Du hast ja Wollmeyer das Geschenk von Brankwitz zurückgesandt?“

„Ja, Mama. Hattest Du das anders erwartet?“

Sie wand verlegen das Taschentuch in den Händen, und ein Zittern ging durch ihre Gestalt. „Ach – ich –“ dann stockte sie.

„Hattest Du Unannehmlichkeiten dadurch, Mama?“ fragte ich und faßte besorgt nach ihrer Rechten.

„Nein,“ gestand sie mit niedergeschlagenen Augen, „denn ich habe – Du wirst verzeihen, Anneliese – ich habe zufällig die Sendung abgefangen; ich behielt sie zurück, weil ich dachte – ich fände es richtiger, wenn Du das Geschenk vielleicht Brankwitz selbst zurückstellst, oder durch die Base, denn Bernhard – siehst Du – er – er –“ Sie zitterte noch mehr, und die heißen schlanken Finger zwischen den meinen zuckten.

„Rege Dich nicht auf, Mama; Du hast gewiß recht,“ stimmte ich ihr bei. „Hätte ich seine Adresse gewußt, so würde ich natürlich gleich direkt – – sage mir nur, wo der taktvolle Absender gegenwärtig ist, dann will ich es sofort thun.“

Sie sah mich an, hilflos wie ein krankes Kind. „Ich kann Dir nicht Auskunft geben, Anneliese; er ist von Cannes abgereist, aber –“ und sie sprach es ganz leise, „in wenigen Tagen kommt er her.“

„Hierher?“ Ich mochte es heftig und angstvoll gerufen haben.

Sie schwieg mit bekümmertem Gesicht.

„Mama,“ bat ich, auf sie zutretend, „sage mir doch nur eines, beruhige mich doch – ich kann den Gedanken nicht fassen, daß Du, die mich immer lieb hatte –“, ich verstummte, denn eben trat Wollmeyer über die Schwelle. Er sah rot und erhitzt aus wie stets, wenn er gut gegessen und getrunken hatte.

„Helene, aber ich bitte Dich!“ rief er vorwurfsvoll, „die Landrätin steht da am Klavier und dreht ihr Notenblatt zwischen den Fingern – komm, komm, wer soll sie sonst begleiten? – Guten Abend, Anneliese, wir sprechen uns morgen. Ist die Base mitgekommen? Schön! Hat mir vermutlich viel Neues zu erzählen? Also gute Nacht! Komm, Helene!“ Sie gingen.

„Alles noch ebenso,“ sagte ich, zu Papas Bild hinübersehend, „nur ich bin eine andere geworden.“

Und auf einmal klopfte es, just als die alte Frau und ich beim Thee saßen, derb an die Thür und die Komtesse kam herein.

„Schau, schau!“ rief sie, „wieder ins Nest geflogen?“ Und sie küßte mich, drückte mich wieder in meineu Stuhl und setzte sich neben mich. „Laßt Euch nicht stören beim Essen, ich will nur ’mal die Krabbe hier sehen. Wie geht’s, meim Kückem? Hör ’mal, ich glaube, Du bist gewachsen, und hast ganz ernsthafte Augen bekommem!“ Sie griff mir unter das Kinn und hob mein Gesicht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_792.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2022)