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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zärtlich liebte, erkrankte im blühendsten Alter unheilbar an der Schwindsucht, auch der dritte Sohn Michael soll leidend sein, und nachdem er, der Starke, Gewaltige, von dem man rühmt, daß er mit einer Hand ein ganzes eng zusammengelegtes Kartenspiel zerreißen und ein Hufeisen auseinander brechen konnte, unverletzt mehreren Attentaten entgangen war, befiel ihn die schleichende Krankheit, der er jetzt zum Opfer gefallen!

Bloß ein Alter von neunundvierzig Jahren hat er erreicht. 1845, am 10. März (den 26. Februar a. St.) kam er zur Welt. Seine Mutter Marie war, wie jetzt die Braut des neuen Zaren, eine Hessen-Darmstädtische Prinzessin. Durch den Tod seines Bruders Nikolaus wurde er am 24. April 1865 Thronfolger, und im Jahre darauf, am 9. November, vermählte er sich mit der Tochter König Christians IX. von Dänemark, Dagmar, welche beim Uebertritt zur russischen Staatskirche den Namen Maria Feodorowna erhielt und an deren Seite ihm ein reiches Eheglück beschieden war. In ihrer Heimat, am Hofe des Dänenkönigs, verbrachte er auch am liebsten die Tage der Erholung. Durch wie gewaltige Rüstungen er während seiner späteren Regierung das russische Heer auch verstärkt hat, er selbst hatte keine kriegerischen, nicht einmal soldatische Neigungen. Im Türkenkrieg des Jahres 1877 kommandierte er den linken Flügel der Donauarmee; die Eindrücke, die er auf diesem blutigen Feldzuge empfing, übten eine abschreckende Wirkung auf sein Gemüt. Wenn er trotzdem in seiner weitgehenden Freundschaft für Frankreich, in seiner Empfänglichkeit für die Ideen des Panslawismus und seinem Streben, die Macht der russischen Staatskirche über alle russischen Unterthanen auszudehnen, eine Politik betrieb, die keineswegs immer einen nur friedlichen Charakter hatte, so läßt sich dies dadurch erklären, daß er in der Verwirklichung seiner politischen Ideale die größte Garantie für die Erhaltung des Friedens nach innen und außen erblickte.

Zar Alexander III. †. Zar Nikolaus II.
Nach Aufnahmen von Levitsky und Sohn, Hofphotographen in St. Petersburg.

Die ewige Ruhe hat jetzt Alexander III. bei seinen Vorfahren in der Gruft der Peter-Pauls-Kathedrale auf jener gleichnamigen kleinen Newa-Insel, auf welcher drohende Festungswerke die äußerlich schlichte Kirche umgeben, gefunden. Den im Innern des Gotteshauses aufgestellten, von Palmen und Epheulauben umgebenen einfachen weißen Marmor–Sarkophagen der Romanoffs wird sich bald ein neuer hinzufügen, auf goldener kleiner Tafel nur die Worte zeigend: „Alexander III., Kaiser von Rußland. 1881–1894.“

Von dem Vater wenden sich die Augen zum Sohne. Am Tage nach der Trauerpost boten in den Straßen St. Petersburgs die Zeitungsverkäufer die Proklamationen des neuen Kaisers Nikolaus II. aus. Nicht nur äußerlich, auch innerlich scheint er das gerade Gegenteil des verstorbenen Kaisers zu sein. Von schmächtiger Figur, von lebhaftem Wesen, Bart und Haare blond, in den blauen Augen Lebenslust und Freundlichkeit, wenig für militärischen Pomp eingenommen, fühlt er fraglos die verantwortungsreiche Last, die ihm das Geschick verliehen, leichter und sorgloser als sein Vater. Geboren am 18. Mai 1868 zählt er jetzt sechsundzwanzig Jahre. Von vornherein zum Thronfolger bestimmt, hat er auch eine vielseitigere Erziehung als sein Vater erhalten. Sein Haupterzieher, General Bogdanowitsch, ist ein entschiedener Anhänger „westdeutscher“ Bildung. Ueber seine Neigungen, über seine Befähigung, seine sozialen und politischen Ansichten ist viel Widersprechendes in die Oeffentlichkeit gelangt. Eins ist sicher, daß Kaiser Nikolaus II. nicht eine derartige Abneigung gegen Deutschland und deutsches Wesen hegt, wie sein Vorgänger auf dem Throne sie lange Zeit gehegt hat, und zum großen Vorteile dürfte es ihm ferner gereichen, daß er sich auf einer neunmonatigen Reise um die Erde tüchtig im Auslande umgesehen und alle Kulturbestrebungen mit Interesse verfolgt hat. Wie er sein schwieriges Amt verwalten, welche Stellung er zu den übrigen europäische Reichen nehmen wird, das zu erörtern ist heute müßig und unmöglich. Möchte er, gleich seinem Vater, an der Seite des lieblichen deutschen Fürstenkindes einen festen Hort im Glück des Familienlebens finden und, wie jener von starker Friedensliebe beseelt, seines verantwortungsvollen Herrscheramtes walten; möchte es ihm ferner beschieden sein, durch segenbringende Reformen seinen Unterthanen den inneren Landesfrieden so zu begründen, daß er in der Zufriedenheit des Volks seine sichere Stütze hat!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_796.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)