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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

dem Hauptmann Holl mußte ja nun klar geworden sein, daß sie über genug Anbeter verfüge, um den einen leicht entbehren zu können. Ohne zu wissen, wohin, rannte sie weiter. Endlich wollte sie umkehren; drei zackige Pforten standen vor ihr – aus welcher war sie gekommen? Sie wählte aufs Geratewohl die eine, aber die verlor sich in einer Kluft. Also zurück! Den Gang wurde so niedrig – nein – hier konnte sie auch nicht hereingekrochen sein. Abermals zurück! Da standen wieder äffend drei gleiche zackige Pforten vor ihr. Die Angst überfiel sie, sie lief ratlos hin und her. Jetzt kam sie in einen weiten Raum. Wasser füllte ihn, aber ein schmaler Pfad schien hindurchzuführen. Vorsichtig betrat sie diesen. Ein kalter Zug, der aus unerforschten Höhen kam, blies ihr das Licht aus. Tastend ging sie ein paar Schritte weiter, da versank der Fuß in eisiges grundloses Wasser. Sie wandte sich – wieder Wasser! Sie fand den Weg nicht zurück: rings umgab sie die Flut.

Sie rief; der Ton erstickte in dem Raum. Finsternis ringsum – nirgends ein Halt. Schwindel erfaßte sie und sie sank zusammen.

Unterdessen sammelte sich die übrige Gesellschaft wieder in der Eingangshalle. Der Bergmann hob den Spruch zum Abschied an. Da unterbrach Holl ihn mit scharfer Stimme: „Ist die Gesellschaft vollzählig?“

„Ilse fehlt,“ sagte Gabriele, erschrocken.

In ihrem Bestreben, ihren Beziehungen zu Schersen die ihr allein würdig erscheinende Form zu geben, hingerissen von den Erinnerungen an das einst Erlebte, hatte sie eine Zeit lang die junge Freundin vergessen. Jetzt fiel ihr die Verantwortlichkeit für diese schwer aufs Herz.

„Das Fräulein wird doch nicht in der Neptunsgrotte sich verirrt haben! Dort ist das Wasser sechzehn Fuß tief,“ bemerkte ängstlich der Führer.

Die Damen schrien auf.

„Warum sind keine Warnungstafeln errichtet?“ schalt der Bürgermeister.

„Wer hat Fräulein Großheim zuletzt gesehen?“ „Herr Referendar, haben Sie nicht mit ihr getanzt?“ fragten die anderen durcheinander.

Ohne sich um die Gesellschaft zu kümmern, eilte Holl zurück, nachdem er sich bei dem Führer nach der Richtung erkundigt. Gabriele folgte. „Fräulein Großheim! Hallo – hallo!“ rief er in die Gänge hinein. Keine Antwort.

Doch klang es da nicht wie ein Jammerlaut aus der Felsenspalte? Alles leer! Also nur das Echo der Höhle. Aber woher kam der Ton? Vorwärts! Tief unter ihm schien ein neues Grubenlicht aufzutauchen – Täuschung! Es war nur das Spiegelbild dessen, das er in bebender Hand hielt. Weiter, weiter! Gespannt lauschend und scharf beobachtend, den Blick auf die Karte gerichtet, wandte er sich in die engen Erdgänge hinein. Sie standen an einem Felsenspalt, vor ihnen öffnete sich eine Grotte. Dort mitten im Wasser, zusammengesunken auf dem Riff, lag Ilse.

Gabriele atmete auf. „Gott sei Dank!“ sie wollte zu ihr hin.

„Halt!“ gebot Holl. „Hier ist alles Wasser; da führt kein Weg hinüber.“ Er leuchtete hinab. „Sehen Sie die tiefen Abgründe mit den zackigen Felsen? Ich bitte, noch ein paar Augenblicke sich ruhig zu halten!“ rief er mit halb erstickter Stimme Ilse zu. Er eilte zurück, um von der andern Seite zu ihrem Platz zu gelangen, und erschien nach einer Weile hinter ihr.

Ilse richtete sich auf mit angstvollen Augen sah sie ihm entgegen. Ach, sie hätte so gern die Hände um seinen Hals geschlungen, sich ausgeweint! Die Todesangst der letzten halben Stunde hatte den Trotz gebrochen – zu spät. Er umfaßte sie zwar mit starkem Arm und hob sie von dem glatten Riff zu sich herüber; aber er stellte sie hastig auf die Fuße, als stoße er sie von sich. Dabei war er so dunkelrot wie vorhin leichenblaß. Sie empfand etwas wie Furcht, und der Dank, den sie stammeln wollte, erstarb auf ihren Lippen.

Er wandte sich auch schon wieder von ihr ab. Sie sah nur noch sein Profil, das einen kalten entschlossenen Ausdruck trug.

Auch bei Gabriele fand sie keine weiche Rührung; die Freundin war sehr ernst. Stumm ging Ilse neben ihr her. Das nasse Kleid schleifte auf dem Steinboden nach.

Am Ausgang hielt Holl einen Appell über die Gesellschaft und ließ sie dann in geschlossener Kolonne abziehen; er war der letzte. Als Ilse an ihm vorüberschlich, traf sie kein Blick, und als ihre Verehrer sie besorgt nach ihrem Befinden fragten, erhielten sie keine Antwort. Die Elbfrauen hatten ihnen allen schweren Sinn gesponnen.

Die Wagen fuhren vor. Holl bot Gabriele die Hand zum Einsteigen. „Gestatten die Damen, daß wir uns hier beurlauben. Ich will das Gelände in Augenschein nehmen – wahrscheinlich kommt das nächste Manöver in diese Gegend.“

„Und ich möchte ein paar interessante Felsenprofile abzeichnen,“ setzte Schersen hinzu, ohne Gabriele anzusehen. –

Während die Wagen mit den allseitig kleinlaut gewordenen Insassen davonrollten und Holl unter dem Vorwand, Entfernungen abzuschätzen, in die Wiesen hineinging, stieg Schersen zur Falkenburg empor. Wohl erfaßte auch jetzt sein Malerauge die wunderliche Bildung der Felsen, deren weiße Kalkgesichter unter schwarzen Fichtenkappen hervorschauten, die schlanken Raubvögel, die darüber kreisten und dann durch die blaue Luft dem Habichtsthal zuruderten; aber er griff nicht nach dem Skizzenbuch. Er hatte diesmal die Kunst nur als deckenden Schild gebraucht. Er fühlte sich verletzt, daß er trotz seines Werbens um Gabrieles Interesse nicht mehr sein sollte als eine kleine Randbemerkung an dem ernsten Text ihres Lebens. Und diese Empfindung wurde noch überboten von der Beschämung über seine Verblendung. Wie hatte er sie, wie vor allem sich selbst so mißverstehen können! Warum ließ er sich nicht warnen von dem beklemmenden Gefühl, das ihn überkam, als damals Swentas Bild aus dem Skizzenbuch flatterte, als Holl des Whistabends, Stöckei ihrer gemeinschaftlichen Freunde hier in der Gegend gedachte? Sensitive Naturen sollten solche Empfindungen beachten. Sie sind die Sprachen der Seele, die mahnt: werde dir selbst nicht untreu! Und warum hatte er heute spöttisch gelacht, als Gabriele von der „einzigen“ Liebe sprach? Konnte nicht auch er davon reden? Genügte jetzt nicht die Erinnerung an sie, die Herrliche, Einzige, um ihn über die Demütigung hinwegzuheben, daß eben eine andere ihn sanft aus ihrem Leben hinausgeschoben hatte? Ein schwermütiger Seufzer kam über seine Lippen. Aber er galt nicht Gabriele. Ihn däuchte nun, die Beziehung zu ihr sei über seine Empfindungen nur wie ein sanft fächelnder Hauch hinweggegangen, der den alten Schmerz zu dämpfen, aber nicht zu vertreiben vermochte. Seine Augen verloren sich träumerisch in die Weite. Dort, wo das Renaissanceschlößchen aus den Parkbäumen aufragte, entwickelte sich eben eine Kavalkade. Herren in Cylindern – jedenfalls Stöckei darunter – Damen mit Jockeymützen und Reitstöcken, halberwachsene, auf Ponies sich wiegende Mädchen, deren ährenblondes Haar offen herabwallte, Reitknechte sprengten dem Walde zu. Er mußte gestehen: die Damen ritten vorzüglich. Die an der Spitze – doch welche Thorheit! Die Phantasie spielte ihm einen Streich – er hatte nur so lebhaft an sie gedacht. Wo war sein Krimstecher? Zu Hause, weil er seiner in der Höhle nicht bedurfte. Ach, die ganze Partie gäbe er darum, wenn er unterscheiden könnte. – Unmöglich! Sie verschwanden hinter den Bäumen. Nur Pferdegetrappel und hohe helle Töne; wie sie der Wind von lebhaftem Geplauder in die Ferne treibt, klangen noch zu ihm herüber.

Seufzend wandte er sich ab und stieg zu den melancholisch rauschenden Fichten hinauf.


In der Kastanienvilla raunten die Dienstboten durcheinander. Gabriele hatte bei der Rückkehr sofort das Stubenmädchen gerufen, damit es Ilse aus den durchweichten Kleidern helfe; der Hausdiener trug die mühsam von den Füßen geschälten Känguruhstiefelchen fort, die Köchin machte Thee. Ilse ließ alles mit sich geschehen. Mechanisch nahm sie den Thee; wie im Traum erwiderte sie Gabrieles ernsten Gutenachtgruß.

Sie war ganz erstarrt vor Verblüffung. Wie ängstigten sich zu Hause ihre Eltern über einen tollen Streich, wie wurde sie gehätschelt, wenn er dann glücklich ablief! Hier dagegen! Gabriele schien sich beleidigt zu fühlen. Und er? – In den Augen das verständnislose Erstaunen, das alle jungen Menschen überkommt, wenn zum erstenmal ihr Selbstvertrauen erschüttert wird, schlich sie scheu ans Fenster. Die Petroleumlaternen waren bereits gelöscht worden; ein letztes Düftchen hatten sie in die Nachtluft hineingewirbelt, ohne ihrer Frische etwas anhaben zu können. Der Mond guckte durch die Bäume wie stets in kleinen Städten, nicht als ein fernes kaltes Himmelslicht, sondern gleich einem breitgesichtigen gutmütigen Nachbar.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_802.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2023)