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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

habe. Sie packte ihre Arbeit zusammen und kehrte langsam in ihre Wohnung zurück. Ilse stand mitten im Zimmer. Gesehen hatte sie offenbar alles. Stumm, aber mit um so beredterem angstvoll flehendem Blick wandte sie sich Gabriele zu. Diese mußte sich erst fassen. Dann, scheinbar an ihrem Nähtischchen beschäftigt, sagte sie, ohne das junge Mädchen anzusehen: „Die Herren haben sich empfohlen. Sie reisen ab.“

Ein paar Augenblicke blieb es still. Dann stieß Ilse heraus: „Gabriele, wir wollen auch fort!“

Gabriele schüttelte den Kopf. „So gern ich Ihren Wunsch erfüllen möchte, es würde unschicklich sein, jetzt aufzubrechen. Wir müssen unseren Aufenthalt ruhig zu Ende führen, uns benehmen, als sei nichts geschehen. Sie sind kein Kind mehr, Ilse – Sie haben Ihre weibliche Würde zu wahren.“

Ilse wagte keinen Widerspruch weiter. Mit schleppendem Schritt ging sie in ihr Zimmer und warf sich wie vernichtet auf das Sofa. Sie konnte es nicht fassen. Man ließ ihr nicht einmal Zeit, ihre Reue zu zeigen – er reiste ab! Und sie blieb und konnte sich mit der ganzen Schar ihrer jungen Verehrer wie bisher – amüsieren. Amüsieren! Es wurde ihr ganz elend bei dem Gedanken. Sie begriff gar nicht, daß ihr das kindische Tollen einmal Vergnügen gemacht hatte, vor wenigen Tagen noch – war es möglich? Vor einer Ewigkeit, meinte sie jetzt. Und dann kam die Heimkehr. Kalt und heiß rann es ihr durch die Glieder. Es graute ihr ordentlich vor ihrem farbenschillernden Boudoir, wo musizierende Katzenfamilien und Plüschaffen die Luthertischchen bedeckten Butzenscheiben und eingesetzte bunte Glasgemälde die Fenster bildeten, persische Behänge mit türkischen Teppichen und eminenzroten Diwans wetteiferten. Mußte da nicht stets der spöttische Blick sie verfolgen, mit dem er ihre Regenbogentoilette rügte? Und wenn Johann die Schüssel mit Erbsen präsentierte, würde sie da nicht immer eine tiefe Stimme schalkhaft fragen hören: „Wie kochen Sie Erbsen?“ Und dann sollte sie schlucken können? Nein! Und sie konnte auch nicht tanzen auf dem Sommerball, den ihre Eltern gaben. Wenn die Française anhob, sank ihr gewiß Blei in die Füße. Sie krampfte die Hände zusammen. Großer Gott! Und dieses Schicksal hatte sie sich selbst aufgebürdet!


Die Julisonne glühte auf dem rötlichen Felsgestein des Kyffhäuser, daß dieses selbst ein rosiges Licht auszustrahlen schien; sie wob helle Lichter in den weiten grünen Waldmantel des Berges, an dessen Fuß „die güldene Au“ heranwallte, mit üppigen Saatfeldern zahllosen Dörfern ihrem Namen Ehre machend.

Um den alten Turm auf dem Abhang nach Abend waltete tiefe Stille. Die Raben, die ihn einst umflogen, waren verschwunden. Kein junger Schäfer brach mehr die blauen Blütenrispen des Ehrenpreis am Wegrand, um sich den Eingang zu dem weltentrückten Kaiser Barbarossa zu erschließen, kein Hofzwerg spendete aus der Schatzkammer Gold und Silber, keine weiße Prinzessin aus den Riesenfässern des kaiserlichen Kellers edlen Wein. Nur in dem Laube einer Eiche, die mit ihrem Wipfel über den Bergrand emporragte, säuselte wie wehmütig die Sommerluft zu dem alten Sagenturm hin, dessen Zeit um ist. Und einsam auch schaute gegen Morgen aus hohlen Fenstern die Kapelle zum Heiligen Kreuz, „das einst hier große Wunder gethan und viel Zulauf gehabt hat“, wie die Chroniken berichten. Die Waldbäume waren über den eingestürzten Giebeln zusammengewachsen, die ehemals mit schweren Opfern erkauften Grabstätten versunken, durch eine Rasendecke gleich gemacht.

Aber zwischen diesen beiden Ruinen, deren starke Mauern fronendes Volk einst türmte, herrschte frisch pulsierendes Leben. Da wuchsen die Terrassen empor, auf deren oberster das Denkmal der deutschen Krieger in die Höhe steigt. Arbeiterscharen wimmelten durcheinander, Steinpicken klangen, Winden knarrten, Karren rasselten. Mit dem Selbstbewußtsein, das die neue Zeit dem Sohn des Volkes eingeflößt hat, sprachen die von Kalk bestäubten Männer zu den Fremden, die gekommen waren, das Bauwerk zu beschauen, wiesen die Stätte, wo die beiden Kaiser stehen sollen: der, an dessen Gestalt die Prophezeiung sich knüpfte, und der, welcher die Erfüllung brachte.

Geführt von dem Frankenhäuser Bürgermeister, der als echter Landwehrmann nicht nach den Perlen auf seiner Stirn fragte, wenn es marschieren hieß, zogen Kriegervereine über den mächtigen wie unter Cyklopenhand sich schichtenden Bau. Die Aelteren hatten alle die Kriegsdenkmünze angelegt, einer, der an einem Krückstock ging, das Eiserne Kreuz wie bei einer Parade vor einem hohen Herrn.

„Gut Heil!“ schallte es aus dem Eichwald herauf, und vor dem Bergesgipfel senkte sich die Fahne der Turner, die unter Leitung des Ingenieurs den Berg erstürmten auf einem Pfad, den er bereits für eine Zahnradbahn vermessen hatte. Der Oberpostsekretär und seine Velocipedisten rollten medaillengeschmückt heran, die deutschen Bänder über der Brust. Und auf der breiten Straße fuhren grün umsteckte Wagen mit dem fröhlichen Sängerbund. Ohne Verabredung stimmten alle beim Anblick des zusammensinkenden und des aufsteigenden Turmes an: „Deutschland, Deutschland über alles“. Nah und fern fielen Chöre ein: es waren die Gäste, die zu dem Fest herbeieilten. Und die Musik schmetterte einen Tusch dazwischen. Dort, wo sie aufgestellt war, vor der altdeutschen Speisehalle, unter dem Schattengitter der jungen Bäume, breitete sich die Festgesellschaft aus. Metkrüge wurden nach deutschem Brauch geschwungen; in eine stilvolle alte Sammelbüchse klapperten die neuen Markstücke; das Rabenornament an dem Kreuzgewölbe, den geschnitzten Stühlen des Saales stimmte zu den von dem englischen Horn jetzt wirklich geblasenen Rabenschreien im Vorspiel.

Die Damen der Badegesellschaft hatten sich zusammengefunden. Bei den plaudernden lachenden jungen Mädchen stand Ilse, schweigend. Unter dem weißen kleinen Strohhut sah ihr Gesichtchen blaß und schmal hervor. Sie hatte Holl und Schersen heute in dem mit Koffern bepackten Wagen abreisen gesehen. Plötzlich fuhr sie zusammen wie von einem Blitzstrahl getroffen. War es möglich? Er! Um Kopfeslänge überragte er die andern – sein scharfes Auge erfaßte die Gruppe, in der Gabriele und sie standen. Würde er sich abwenden? Nein. Er kam mit Schersen heran, aber zögernd, als widerstrebte es ihm. Sie war wie gelähmt.

„Wir sehen uns doch noch einmal,“ sagte er zu Gabriele. Der Ton klang gepreßt, die spröden Lippen zuckten. „Schersen meinte, wir als Offiziere dürften doch nicht an dem patriotischen Fest vorübergehen. Wir haben unser Gepäck mitgenommen und wollen dann hinunter nach Roßla zur Bahn fahren.“ Mit sichtlicher Ueberwindung wandte er sich an Ilse. Eine schmerzliche Bitterkeit trat in seine Züge. Da sah er sie stehen in dem weißen Kleid, so einfach und zum erstenmal so hilflos zart – und plötzlich glitt etwas wie Befangenheit über sein Gesicht. „Sie trennte die Silberglöckchen von ihrer Schleppe“ – ging es ihm durch den Sinn.

Schersen verbeugte sich vor Gabriele. „Ihr schönes letztes Wort sollte nicht umsonst gesprochen sein,“ sagte er, wieder mit dem weichen Klang der Stimme, der ihr so lieb war. Sie drückte ihm herzlich die Hand. Und da eben lauter Beifall die Einleitung zu „Barbarossas Erwachen“ krönte, schlug sie mit ihm den Weg ein nach dem Gipfel des Berges. Vor ihnen hielt ein Kutschierphaeton. Eine Dame, deren Kostüm durch das zur Garnierung verwendete dänische Leder sehr reisemäßig aussah, gab einem arabischen Diener Leine und Peitsche und sprang ab: Schersen stand einen Augenblick atemlos, dann stürzte er ihr entgegen. „Gnädigste Gräfin, träume ich?“

„Ah, Baron, famos!“

Wie leicht auch die Begrüßung sich vollzog, als hätten sie gestern erst Abschied genommen – sie hatten doch nur Augen für einander in dieser ersten Sekunde des Wiedersehens.

„Ich weiß schon seit drei Tagen, daß Sie in Frankenhausen sind,“ sagte sie. „Herr von Stöckei erzählte es.“

„Dort sind Sie? O, meine Ahnung!“ rief Schersen. „So waren Sie doch bei der Kavalkade, die ich von der Falkenburg aus sah – die Dame an der Spitze des Zuges!“ Und leise fügte er hinzu: „An meinem stockenden Herzschlag fühlte ich es.“ Sie lachte, das dunkle weiche Lachen, das für ihn Musik war; aber ungläubig flog ihr Blick zu Gabriele. Voll Teilnahme folgte diese dem Vorgang. Nun wußte sie, warum die Dame in der Extrapost ihr bekannt erschienen war.

Es lag ein Ausdruck von Spannung in den Zügen der Gräfin, als sie jetzt zu Gabriele trat. Aber trotz der Verschiedenheit war es, als stellte sich sofort zwischen den beiden Frauen ein Einverständnis her. Es sind eben nicht nur die Gauner, die sich durch geheime Sprache verständigen, auch zwischen edlen klugen Menschen giebt es eine Freimaurerei, die sich auf den ersten Blick erkennt.

„Gräfin Tölz!“ nannte sich die Fremde, und fragend setzte sie hinzu: „Fräulein Raunthal? Herr von Stöckei erzählte mir nämlich, in welch erlesener Gesellschaft Herr von Schersen sich hier befinde. Ich habe ihn ausgefragt und viel von Ihnen gehört.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_818.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)