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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

für mich nichts Grausiges mehr, er erschien mir heute wie der volle reine Schlußaccord des grellen irren Musikstückes, das wir Leben nennen, ein Accord, in dem alle Dissonanzen so mild, so versöhnend ausklingen – Friede, Ruhe, ewige Ruhe!

Die Komtesse kehrte zurück und trat an mein Bett; sie hatte ein paar Epheublätter mitgebracht. Die große düstere Gestalt mit dem langen schwarzen Kreppschleier und dem verweinten Gesicht beugte sich über mich. „Bist nun mein Gör, Anneliese! Wir bleiben zusammen, ja, sollst sehen, wir vertragen uns.“

Ich küßte ihr still die Hand.

Sie ging, um Hut und Mantel abzulegen, dann kam sie wieder und setzte sich an mein Bett. Josephine brachte ihr eine Tasse heißen Kaffees, den sie trank. Sprechen that sie nicht, sie sah mich nur forschend an. „Tante Komtesse, ich bin ganz gesund, ich kann mich auf alles besinnen,“ sagte ich endlich. „Erzähle mir – nicht wahr, Mama liegt neben Papa?“

„Ja, mein Herz; und auf ihren Hügel setzen wir keinen Stein, Anneliese, wir ziehen die Epheuranken von Papas Grab zu ihrem hinüber, dann wissen die Menschen, daß sie zusammengehören. Es soll nicht dastehen: Hier ruht Helene Wollmeyer.“

Ich nickte stumm.

„Die Base war nicht da, ist vielleicht nicht wohl, das alte Wurm. Wollmeyer hatte den Orden angelegt, den er vorgestern erhielt,“ fuhr sie fort, und ihre Oberlippe zuckte.

Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. „Tante,“ bat ich, „ich kann das nicht hören!“

„Freilich, freilich! – Wir wollen nicht mehr von ihm reden – verzeih’, mein armes Kind! Weine nur, weine!“


Wochen waren verflossen, und nichts geschah in dieser Zeit, nichts. Herr Wollmeyer ging als tieftrauernder, allgemein bemitleideter Witwer mit Kreppbinde um Hut und Aermel und mit vergrämtem Gesicht umher. Das vergrämte Gesicht war höchstwahrscheinlich echt, ihm mochte sicher nicht wohl zu Mute sein, aber er konnte nichts weiter thun als abwarten. Ich vermied, ihn zu sehen; die Komtesse ließ sich nie sprechen, wenn er kam – ihrer Natur gemäß, die nichts halb thun konnte; sie verabscheute ganz oder liebte – liebte wäre in diesem Falle zuviel gesagt – oder sie tolerierte ganz. Wollmeyer war ihr, wie sie sagte, gänzlich aus der Tasche gefallen. „Ich kann ein Verbrechen aus Leidenschaft, einen Mord verstehen,“ sagte sie, „aber Wucher ist etwas so Gemeines, daß ich nicht ein einziges Motiv zum Verständnis desselben finde, und – Gemeines hasse ich.“

Nun sprangen die Knospen an der Linde auf, und drüben auf dem Kirchhof blühten die Veilchen zwischen dem Epheu der Gräber. Ein durchsichtiger köstlicher grüner Schleier wehte über all den Sträuchern und die Stare sangen.

Die Komtesse hatte Frühjahrs-Reinmachen; sie ging umher mit hochgeschürzten Röcken, großer blauer Leinwandschürze, ein weißes Tuch über den Kopf gebunden, den Federwedel wie einen Dolch im Schürzenbund, ein riesiges Wischtuch in der Hand, und stäubte ihre Nippes ab, ihre alten Porzellanfiguren und sonstige Raritäten, und ich half ihr dabei.

„Siehst Du, Kind,“ sagte sie in Anschluß an eine Strafpredigt, die sie mir eben über mein allzustilles Wesen gehalten hatte, „Du solltest ’mal eine von Deinen Freundinnen einladen, solltest ’mal ein bißchen plauschen! Jugend will zu Jugend, in Leid wie in Freud’. Ich kann Dir so ’n Plappermaul von achtzehn Jahren nicht ersetzen, denn schließlich ist alles Heitere, was Du von mir zu hören bekommst, altmodischer Kram, und das andere sind Lebenserfahrungen, und zu allermeist traurige. Dir aber thät’ ein wenig Zukunftsträumen gut, so ein Träumen von aufblühenden Rosen und blauem Sommerhimmel. Da kann ich nicht mehr mitmachen; ich schau’ in der Zukunft nur dürre Aeste. Wie? Soll ich zu Tollens schicken um die Käthe oder zu Aennchen Arnstadt oder Marie Linden?“

„Tante, um Gotteswillen, was soll ich damit?“ rief ich und setzte einen kopfnickenden Chinesen wieder an seinen Platz unter dem Spiegel. „Was diese Mädchen von der Zukunft erwarten, ist etwas anderes wie das, was ich zu erhoffen habe. Ich sehe auch nur dürre Aeste.“

„Mit neunzehn Jahren? Na ja, Kind, das ist für jetzt natürlich, aber in diesen dürren Aesten, da sitzt schon der ganze Saft, der Blüten und Früchte treibt. Kind, Kind, das Schlimmste ist, den Mut zu verlieren. Das darfst Du nicht! Nein, laß nur, ich muß Dich ’mal schelten. Siehst Du, wenn Du die Nächte durchweintest, wenn Du verzweifelt täglich an Mamas Grabe säßest, wenn Du mit einem Worte Deinen Schmerz austobtest, so wäre mir gar nicht bange um Dich. Aber das thust Du eben nicht! Du stehst auf, als wäre Dir nichts geschehen, Du sitzest da am Fenster mit der Arbeit und stichelst, als hättest Du Dein Lebtag da gesessen; Du redest mit mir, als ob’s in der Welt nichts Erschütterndes für Dich gegeben hätte – – – Wer Dich nicht genau kennt, der sollte meinen, Du wärst einfach herzlos. Siehst Du, nicht einmal eine Miene verziehst Du jetzt; ich aber, ich weiß, daß Du nicht herzlos bist, ich sehe an Deinem veränderten Gesicht, daß Du die ganze Sache tausendmal schwerer trägst, als andere es thun würden. S’ist unnatürlich, Anneliese! Du bist wie tot, Du mußt Dich einmal schütteln, Du mußt wieder Schmerz und Freude empfinden lernen – so geht’s nicht weiter. Scheintot geht in wirklichen Tod über; Du kannst doch nicht weiterleben mit einem gestorbenen Herzen? Sei doch meinetwegen eigensinnig und unausstehlich und vorlaut, aber nur nicht so, so, wie Du in diesen Wochen warst!“

„Tante,“ sagte ich, „wie soll ich es denn machen? Ich gucke mich in der Welt um und finde, daß es nichts giebt, was des Beweinens wert ist, nichts, worüber ich lachen möchte. Es ist gut so, wie es ist, laß doch – mir thut wenigstens nichts weh.“

Sie blieb vor mir stehen. „Du bist ein garstiges Ding, Anneliese; es lohnt sich nicht, Dich lieb zu haben. An mich denkst Du gar nicht!“

Ich blickte sie an. Sie hatte Thränen in den Augen. „Gute Tante!“ sagte ich bestürzt, „ach Tante!“ Und auf einmal ward es mir klar, welch eine Welt voll treuer ehrlicher Liebe ich in ihr besaß. „Um Gotteswillen, Tante, vergieb mir, Du bist ja jetzt meiu Alles,“ stotterte ich, „ich will ja – habe nur Geduld – ich werde anders – –“

„Laß gut sein, Kücken!“

„Schicke mich nicht fort, Tante, jetzt noch nicht – später! Siehst Du – jetzt, ich fände mich nicht zurecht da draußen!“

„I, Gott bewahre – wie Du das nur wieder auffaßt! Ich Dich fortschicken? So lange ich atme, kannst Du hier bleiben; aber aufwachen sollst Du, bekümmern sollst Du Dich um den Nachlaß Deiner Mama, ihre Siebensachen sollst Du Dir herholen, Papas Bild und so weiter, dann auch Wollmeyer bitten, daß er Dich hier läßt –“

„Ihn bitten, Tante?“

„Na ja! Er ist doch einmal Dein Vormund und Dein Stiefvater.“

Die alte Dame hatte das rechte Mittel gewählt, mich aufzurütteln. „Was habe ich mit diesem Menschen zu thun?“ rief ich erregt.

Sie blieb ganz ruhig und zupfte an den gestickten Tüllgardinen. „Er war mehreremal hier und hat jedesmal die Josephine gefragt, wann Du wieber zu ihm kämest. Gestern, wie Du auf dem Kirchhof die Blumen begossen hast, traf ich ihn im Hausflur; ich dachte, als es klingelte, es wäre die Dambitzer Butterfrau, und machte selbst auf. Da saß er denn im Gartenzimmer bei mir und sprach von seinem verödeten Hause, und daß er sich nach Dir sehne. Ich habe innerlich gezittert vor Angst, Anneliese, aber ich sagte ganz ruhig: ‚Das Kind ist noch viel zu krank, Herr Wollmeyer, lassen Sie sie einstweilen noch hier.‘ Darauf erklärte er: ‚Das kann ich nicht, ich muß den letzten Willen meiner teuren Helene erfüllen; sie hat mir noch kurz vor ihrem Tode das Versprechen abgefordert, Anneliese ein treuer Vater sein zu wollen.“

„Er lügt!“ rief ich außer mir. „Ich mag nicht zu ihm, nie, nie! O Tante, hilf mir! Aber er geht mich ja auch gar nichts an, dieser Mensch – wie kann er mich zwingen?“

„Anneliese, hör’ doch zu! Ich erklärte ihm also deutlich genug, Du wünschtest vorläufig hier zu bleiben. Darauf lächelte er, erhob sich, machte mir eine seiner merkwürdigen viereckigen Verbeugungen und empfahl sich; was er nun vorhat, mag Gott wissen.“

Im nämlichen Augenblick klingelte es, und Josephine brachte einen Brief.

„Von ihm,“ sagte ich und stützte mich auf den Tisch. Ach, die Komtesse hatte recht; ich war seit Mamas Tode wie im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_842.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2022)