Seite:Die Gartenlaube (1894) 843.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Schlafe gewesen, nun kam das Erwachen, ein schreckliches Erwachen. Ich riß den Umschlag auf, entfaltete den Brief und erschrak schon über die Anrede:

„Meine liebe Tochter und Mündel! Hierdurch fordere ich Sie auf, in mein Haus zurückzukehren. Es ist der ausdrückliche Wunsch Ihrer Mutter, den sie mir auf dem Sterbebette noch ans Herz legte, daß Sie unter meinem Schutz weiterleben.

Ich erwarte Sie an einem der nächsten Tage, den zu bestimmen ich Ihnen überlasse. 0 Mit väterlichem Gruß Ihr

Vormund Bernhard Wollmeyer.“ 

Das hatte ich nicht erwartet!

„Ich thue es nicht,“ sagte ich verzweifelt, indem ich der Komtesse den Brief gab.

„Armes Gör!“ murmelte sie, setzte sich in einen Sessel und zog die Stirn in hundert krause Falten. „Du bist neunzehn?“

„Ja. Alt genug, um zu wisseu, was ich will.“

„Freilich, mein Kücken, aber das Gesetz!“

„Gesetz?“ fragte ich empört, „giebt es ein Gesetz, das mich zwingen kann, in Gemeinschaft mit einem Schurken zu leben?“

„Nein, Anneliese, aber erst mußt Du beweisen, daß er einer ist.“

„Tante, Du weißt so gut wie ich – –“

„Ja, ich weiß, daß er gemeine Geschäfte macht, wenigstens habe ich ihn so verstanden, aber beweisen kann ich’s nicht, und Du auch nicht.“

„Ich laufe fort, aber diesmal soll mich niemand finden!“ rief ich, mit einem Anflug meiner alten Energie.

„Vorläufig warte nur, ich erkundige mich erst bei meinem Anwalt,“ sagte die Komtesse, „und zwar werde ich das gleich besorgen.“ Und sie rief mit Donnerstimme auf den Flur hinaus nach Regenmantel und Gummischuhen.

Bald darauf stelzte sie die breite schlecht gepflasterte Straße hinunter, mitten auf dem Fahrdamm; den schmalen Bürgerstieg verachtete sie, weil man da entweder gerempelt werde oder in den Rinnstein ausweichen müsse, und heute glichen diese Rinnsteine kleinen reißenden Bächen.

Rechtsanwalt Schulzen war ihr Berater. Er stand in hohem Ansehen bei allen Adelsfamilien der Umgegend und war nicht allein ein geistreicher Jurist, sondern auch ein liebenswürdiger Gesellschafter; erst seit dem Tode seiner Frau lebte er zurückgezogen – sie war vor zwei Jahren gestorben.

Ich saß während der Abwesenheit der Komtesse mit einem empörten verzweifelnden Herzen in meiner Stube und lehnte mich gegen dieses Verlangen meines Stiefvaters auf mit aller Macht der Seele. Die Tante kam nach einer Stunde zurück, sie sah blaß aus, mit einem hochroten Fleck auf der rechten Wange.

Ich war ihr entgegen gegangen bis in den untern Hausflur; nun nahm ich ihr Hut und Tuch ab und sah sie angstvoll fragend an, aber sie sprach keine Silbe. Endlich drinnen im Zimmer sagte sie kurz, indem sie sich etwas am Kanarienbauer zu schaffen machte: „Da ist nichts zu wollen, Kind, Du mußt hin.“

Ich schwieg, ich war fest entschlossen, nicht hinzugehen.

„Das mit dem letzten Willen Deiner Mutter, das ist offenbar eine Lüge,“ fuhr sie fort, „hat in der Sache auch gar nichts zu bedeuten; aber Du kannst ohne seine Einwilligung nicht sein Haus verlassen, bevor Du großjährig bist; Deine Lebensführung untersteht seiner Bevormundung.“

„Und wenn ich trotzdem davongehe?“

Sie räusperte sich. „Ich fragte den Anwalt, was Dir geschehen könne, wenn Du – wenn ich Dich heimlich fortbrächte, nach Hamburg zum Beispiel?“

„Ja, Tante, thue es, bitte, bitte – bring’ mich hin!“ unterbrach ich sie flehend.

„Da nahm er ein Buch vom Tische,“ erzählte sie weiter, ohne meinen Ausruf zu beachten, „und las mir etwas vor. Siehst Du, Kind, da heißt es ungefähr: ,Wer es versucht, eine minderjährige Person durch List, Drohung oder Gewalt dem Vormund zu entziehen, macht sich nach Paragraph so und so des Reichsstrafgesetzbuches strafbar!‘ ,Wieso denn, lieber Justizrat?‘ fragte ich, ,eine Geldstrafe? Na, darauf soll’s mir – –‘ ,Pardon, Komtesse,‘ unterbrach er mich lächelnd und nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger, ,das ist nicht mit Geld abzumachen, Sie müssen sitzen!‘ Und nun stopfte er sich den Tabak in die Nase, als ob das gar nichts wäre, das Sitzen!“

„Tante!“ rief ich entsetzt.

„Ja, mein Herz! Also Du siehst ein, ich kann Dir jetzt nicht helfen.“

„Natürlich, natürlich!“ stotterte ich.

„Er fragte mich dann, ob ich verwandt sei mit Dir. Aber ich bin ja nicht verwandt mit Dir armem Gör, sonst hätte ich das Recht, beim Vormundschaftsgericht zu beantragen, daß Du mündig gesprochen wirst. Aber so –“ Sie rückte mit einer ärgerlichen Gebärde die Haube von einem Ohr zum andern, nahm ihr Strickzeug zur Hand, eine riesige, teilweise in Servietten verhüllte Arbeit, eine für irgend welche Kousine bestimmte Wiegendecke von zartestem Blau und Weiß, und bald schlugen die Holznadeln aneinander: fortissimo.

In mir tobte Schrecken und Zorn zugleich.

„Das ist alles die Folge der unüberlegten Heirat,“ grollte die Komtesse. „Wäre die Len’ nicht in ihrer kopflosen Sorge um Dich mit beiden Füßen zugleich in diesen Sumpf gesprungen, es schaute anders aus heute – Du hättest sie noch, Deine Mutter. Jawohl, das behaupte ich, denn wie er sie gequält hat, das ist mir erst jetzt ganz klar geworden.“

Ich schlug die Hände vor das Gesicht; was hatte Mama gelitten!

„Jetzt wird er Dich peinigen, und unsereiner weiß das und kann nicht helfen! O, ich wollte, die Sündflut käme und nähme diese ganze erbärmliche Menschheit mit fort!“ Die Komtesse war eine so religiöse, wahrhaft fromme Natur, daß diese Worte ganz befremdend klangen. „Und wenn man nur absehen könnte, wann es endet!“ fuhr sie fort, „ich meine den Aufenthalt bei Wollmeyer, zwei Jahre hältst Du das ja gar nicht aus. Wenn Du wenigstens Gelegenheit hättest, Dich zw verheiraten! Aber wer ist denn hier in Westenberg, der zu heiraten wäre? Keiner! Ein paar Referendare, die noch auf der Tasche ihres Vaters leben – der Steinberg hat sich mit Käthe Tollen verlobt – und der Diakonus paßt zu Dir, wie wenn man den Katechismus neben einen Band lyrischer Gedichte stellt – ach Kind, ’s ist trostlos!“

Es würde auch gerade einer Wollmeyers Tochter nehmen! dachte ich.

Und als wollte sie widersprechen, meinte die Komtesse: „Es wird freilich nicht fehlen an solchen, die Dein Geld wollen, oder vielmehr dem Wollmeyer seines – du bist ja nun wohl seine Erbin?“

Und ich dachte wieder: Du solltest nur wissen, Tante, wem das Geld von Gottes und Rechts wegen gehört!

„Aber sie werden danach sein, diese Herren,“ sprach sie weiter, „Gott erbarme sich – so’n verkrachter Gutsbesitzer oder Lieutenant, oder so etwas wie Brankwitz – hm – dieser Brankwitz!“ Und nach einer langen Pause wütenden Strickens meinte sie seufzend: „Siehst Du, bist ja nun neunzehn Jahre und hast noch nicht ’mal die übliche erste Liebe durchgemacht, armes Gör!“

Ich wurde flammend rot und unwillkürlich preßte ich die gefalteten Hände zusammen.

„Du bist ja so rot geworden, Anneliese!“

„O, wirklich?“ stotterte ich.

Sie sah mich forschend und ungläubig an. „I, Gott bewahre!“ murmelte sie.

Und auf einmal – es kam über mich mit elementarer Macht – begann ich zu schluchzen, so heftig, so bitterlich, daß ich keine Gewalt mehr über mich hatte. Ich stürzte der Erschrockenen zu Füßen und wühlte meinen Kopf in die Falten ihres Kleides, während mein ganzer Körper bebte. „O, wenn Du wüßtest! Wenn Du wüßtest!“ stieß ich hervor. „Warum hat Mama mich nicht gleich mitgenommen!“

Sie ließ mich ausweinen; es dauerte lange. Endlich sagte sie, nachdem sie beruhigend über meinen Kopf gestrichen hatte: „Wer ist’s denn, Anneliese?“

Ich schluchzte leise weiter, aber ich antwortete nicht.

„Nun?“ fragte sie.

„O, Tante, frage mich nicht! Ich könnte Dir’s nicht sagen –“

„Nun wenn Du es nicht sagen willst, quälen werd’ ich die Leute nicht um ihre Geheimnisse; ich dachte nur, es thäte Dir wohl, Dich auszusprechen.“ Es lag nicht eine Spur von Empfindlichkeit in ihren Worten. „Sei gut, Anneliese, steh’ auf,“ setzte sie freundlich hinzu, „keiner kann mit dem Kopf durch die Wand, und der alte Gott lebt noch.“

Keiner kann mit dem Kopf durch die Wand! Ich wollte es nicht glauben, daß der verhaßte Mensch das Recht haben sollte, mich zurückzufordern, und doch war es so. Es gab keinen Grund

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_843.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2022)