Seite:Die Gartenlaube (1894) 859.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

nicht daran, auszugehen, um Gleichgültiges zu schwatzen. Ach, laßt mich, laßt mich allein! hätte ich schreien mögen. Zuweilen kam die Komtesse, aber gleich in meine Stube, und dann saß sie im Stuhl auf dem Fenstertritt und ich ihr zu Füßen. „Nun sag’ ’mal Kind,“ neckte sie mich eines Tages, „alle Welt weiß, Du seiest heimlich verlobt – nur ich weiß nichts davon!“

„Ich? Das ist nicht wahr! Tante, wer hat es erzählt?“

„Ich glaube, in der Stadtverordnetensitzung ist es zur Sprache gekommen; Wollmeyers Neffe, der einige Milliönchen besitze, sei der Glückliche. Das ist doch wohl dieser Robert Nordmann, Anneliese, an den Du damals geschrieben hast? Nun, die Menschen wissen ja immer mehr als wir selbst. Mir trug Melitta Tollen die Neuigkeit ins Haus; Du siehst, ich bin da, um Dich zu fragen.“

Ich war nachdenklich; sollte mein Stiefvater davon gesprochen haben? Beim Abendessen ward es mir klar. Es mußte ihm etwas Angenehmes widerfahren sein, vielleicht war es auch die ausgesucht besetzte Tafel, an der wir uns niederließen – Kiebitzeier, der erste Spargel, Lachs, frische Morcheln, die zartesten Radieschen, und dazu köstliches Salvatorbier, das Friedrich in die geschliffenen Pokale goß. Ein Strauß Waldmeister stand auf dem Tisch und durchduftete den behaglichen Raum. Im Nebenzimmer hatte man die Fenster geöffnet.

Es war ein trüber, sehr warmer Frühlingsabend, ein Wetter, in dem man förmlich die Blätter wachsen und die Blüten sich entfalten sieht.

„Nun geht’s mit Macht dem Mai zu,“ begann mein Stiefvater und dressierte sich kunstgerecht ein Kiebitzei, „ehe wir’s uns versehen, wird Pfingsten da sein, Anneliese.“

Ich sah ihn erstaunt an und schwieg.

„Da oben in der Mühle ist Pfingsten noch schöner als Weihnachten,“ sprach er, indem er seinen Bart mit der Serviette kreuz und quer wischte – er hatte mit einem Zuge das Glas geleert. „Wer hat denn das grüne Zeug dahingestellt?“ erkundigte er sich, auf die Maikräuter zeigend. „Ist das bloß zum Riechen? Friedrich, die Base soll Moselwein schicken und Zucker und was sonst noch zur Bowle gehört! Es ist durstiges Wetter, Anneliese. He, hat die Base schon Nachricht von dem Robert bekommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Er legte sich in den Stuhl zurück und lachte.

Das soll man glauben, das soll ich Ihnen glauben? Na, mag’s drum sein – Heimlichkeiten sind bei der Liebe der größte Zauber. Prosit, Anneliese, er soll leben!“

Er trank sein Glas abermals bis zur Neige leer; ich rührte mich nicht.

„Den einen,“ fuhr er fort, „haben Sie nun mit Ihren braunen Hexenaugen in die Ferne getrieben, den andern halten Sie hoffentlich damit für immer in der Heimat fest.“ Und er lachte über seinen Witz.

„Sie wissen ja,“ sagte ich sehr langsam und ergriff eine Schüssel, um mir etwas vorzulegen, „ich nehme keinen Mann, der einen Makel auf seinem Namen trägt, das bin ich meinem Namen schuldig.“

„Was kann der arme Kerl dafür, daß sein Vater einen Irrtum beging? Bah, das ist auch längst vergessen!“

„Er kann nichts dafür, aber er muß darunter leiden. Uebrigens ist das so vergessen nicht, wie Sie glauben, besonders nicht in seiner Heimat; die ganze Geschichte ist da so frisch, als wäre sie gestern passiert.“

„Die ganze Geschichte? Was für eine Geschichte?“ fragte er.

„Die Geschichte von Nordmanns Unglück!“

„Liebe Anneliese,“ sagte er würdevoll, „von einer ganzen Geschichte ist gar keine Rede, es sind höchst einfache Thatsachen.“

„Das müssen Sie mir nicht erzählen; Sie müssen immer bedenken, daß ich bei Mama im Zimmer war, als sie krank wurde.“

Er sah plötzlich leichenblaß aus, sprang auf und wickelte die Serviette um seinen Finger, dann stürzte er aus der Stube.

Die Base trat gleich darauf ein, mit der Krystallbowle, mit Zucker und Orangen. „Was ist denn geschehen?“ fragte sie.

„Ich glaube, Herr Wollmeyer hat sich in den Finger geschnitten,“ antwortete ich.

„Ihr habt Euch gewiß turniert?“ meinte sie in ihrer komischen Ausdrucksweise.

Eben wollte ich ihr den Hergang erzählen, da kam mein Stiefvater zurück. „Es ist gut, daß Sie da sind, Base,“ sagte er, „binden Sie mir das Leinwandstreifchen fest um den Daumen – so, danke schön! Na, setz’ Dich dahin, Alte, und trinke einen Schluck Bowle mit!“ fuhr er leutselig fort, sie zur Abwechslung einmal wieder duzend. „Und nun gieb mir ’mal eine vernünftige Antwort – was hat Robert erwidert auf den Pfingstvorschlag?“

Die alte Frau, die eben eine Flasche Wein in die Bowle goß, sah an ihm vorüber. „Ich hab’ ihm nichts davon geschrieben,“ antwortete sie, „das war doch wohl nur Spaß, Herr Stadtrat?“

„I, Gott bewahre! Ich bitte, schreiben Sie ihm heute abend!“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht meines Amtes.“

„Ach, ich soll wohl zu Kreuze kriechen und selbst schreiben?“ fragte er gereizt.

„Das verlange ich wahrhaftig nicht,“ erwiderte sie, „im Gegenteil, ich würde Ihnen abraten, denn kommen thut er doch nicht.“

Er ließ die Gabel, die er zum Munde führen wollte, sinken und sah sie an, als wollte er sie durchbohren. „Woher wissen Sie das?“

„Das denke ich mir so.“

„Sie denken zu viel, liebste Base; Sie sowohl wie hier das gnädige Fräulein sollten die Thätigkeit ihres werten Kopfes etwas einschränken. Anneliese scheint so wie so bereits an Sinnestäuschungen zu leiden, denn sie kommt mir immer mit Dingen, die sie gehört haben will an dem Tage, an dem ihre Mutter starb. Ich habe bereits mit dem Sanitätsrat darüber gesprochen, der stellt Ihnen eine bedenkliche Prognose, liebes Kind. Da hilft nur, sich recht zusammennehmen, sonst kann man krank werden – hier!“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. „Verstanden, mein Töchterchen?“

Es lag ein eigentümlich höhnischer Ton in den Worten, so daß mir der Zorn heiß zu Kopfe stieg. Und mit der alten Unbesonnenheit rief ich: „Es ist nur gut, daß ich nicht allein an dieser Sinnestäuschung leide, daß auch noch andere Leute davon befallen sind und daß diese Hallucination sogar schwarz auf weiß existiert!“

Die Base packte mich plötzlich an der Schulter. „Sie wissen nicht, was Sie schwatzen, Kind! Das Bier ist vielleicht zu stark gewesen – kommen Sie, kommen Sie, Sie sind nervös, und es ist gewitterschwüle Luft.“

Sie zog mich empor und schob mich dem Ausgange zu und über die Schwelle. Heftig fiel die Thür hinter uns ins Schloß. Wollmeyer hatte sich nicht gerührt; wie er aussah, konnte ich nicht erkennen, es war zu tiefe Dämmerung im Zimmer. Ich fühlte, ich hatte irgend etwas Unkluges gethan, hatte ihm einen Wink gegeben, auf seiner Hut zu sein, hatte ihm verraten, daß mit Brankwitz’ teuer erkauftem Briefe noch nicht alle Zeugen des Verbrechens aus der Welt geschafft seien.

„Aber, Anneliese!“ flüsterte die Base vorwurfsvoll.

Da wurde ich heftig und klagte sie an und Robert. Worauf er denn noch warte? Ehe er nicht handle, würde ich nicht frei sein, und ich wolle frei sein, wolle fort, auf eignen Füßen stehen, fort aus dieser Sklaverei, aus dieser Luft voll Schuld und Gemeinheit. Und wenn er nicht bald komme, würde ich krank werden, und dann könnte mich Herr Wollmeyer ja nach seinem Gusto ins Narrenhaus sperren lassen. Ich riß ein Tuch vom nächsten Stuhl und lief in den dunklen Garten. Das altertümliche Gebäude lag schweigend und finster hinter mir wie ein rechtes Unglückshaus. Der Garten hatte selbst im Sonnenschein etwas Düsteres, heute kam er mir fast unheimlich vor. Die Wasserfläche des Teiches ruhte bewegungslos, den dunklen Himmel wiederspiegelnd; schwül, drückend war die Luft und in der Ferne grollte leise der Donner.

„Mama, Mama, wär’ ich bei Dir!“ rief es in meiner Seele. Dann blieb ich stehen und lauschte; eine Nachtigall begann zu klagen und zu schluchzen, und der ganze berückende sehnsüchtige Zauber einer Frühlingsnacht packte mein einsames Herz. Warum zögerte Robert, wenn er mich wirklich liebte? Er mußte ja wissen, daß ich vergehen würde in diesem Hause, er mußte ja verstanden haben, daß ich ihn nur aus Pflichtgefühl zurückgestoßen hatte. Wenn er in dieser Stunde vor mir gestanden hätte wie in der Sterbenacht Mamas, ich wäre in seine offenen Arme geflüchtet und hätte gesagt: „Ja, Du hast recht, was gehen uns die Toten an, was die Heimat, die uns doch keine ist? Wir leben, wir finden drüben eine andere freundlichere Heimat, komm, komm fort, ach, nur fort von hier!“

Nie hatte ich die Vereinsamung, die Schutzlosigkeit meiner Lage so empfunden wie in dieser Stunde.

Im Stübchen der Base flammte jetzt die Lampe auf; ich sah durch meine Thränen die alte gebückte Gestalt hin und her huschen in dem Lichtscheine, wie ich das schon als Kind so oft beobachtet hatte von dem nämlichen Platze aus, der großen Linde, deren Stamm sich über Manneshöhe gabelte zu zwei himmelanstrebenden Bäumen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_859.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)