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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

voller Pracht und Eindringlichkeit, mit lebendiger Frische und überwältigender Anschaulichkeit entgegen.

Auch der Humor und das drollig Hausbackene finden eine neue Heimstatt. Während Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen haust und unter den Tücken der bösen Stiefmutter leidet, grämt sich der arme Prinz, und der alte König, der ebensogut aus Pfefferkuchen gebacken sein könnte, klagt auf struwwelpetrisch:

Der Junge macht mir vielen Kummer,
Von Tag zu Tage wird er dummer,
Von Tag zu Tage weint er mehr,
Wo nimmt er all die Thränen her?

Der Oberceremonienmeister und der Hofmarschall, mit den pudelnärrischen Namen, die sieben Zwerge Blick und Pick, Knick und Nick, Strick, Schick, Dick mit ihren Schaufeln und Hacken, Aexten und Spaten und der lustige alte König, der aus Freude, daß der Prinz wieder vernünftig geworden ist, zur Mayonnaise statt zur Polonaise antreten läßt, das sind die rechten Hanswürste nach dem Herzen der Kinder, bei ihrem Anblick lacht das kleine Volk, und wenn der König sich beim Austeilen der Chokoladenplätzchen gar versieht und eine Handvoll ins Parterre wirft, dann kennt der Jubel keine Grenzen mehr. Mit all ihrer Narrheit und Ausgelassenheit, ihren Scherzen für die Großen und die Kleinen sind die Weihnachtsmärchenspiele bereits ständige Repertoirestücke in den Weihnachtsvergnügungen der Großstadtkinder geworden, und wenn am ersten Feiertag das Essen vorüber ist, dann rüstet sich die kleine Schar erwartungsvoll zum Gang ins Theater. Das jüngste Schwesterchen, das zum erstenmal mitgenommen wird und das „noch fest an den Knecht Ruprecht glaubt“, hat freilich noch keine rechte Vorstellung davon und denkt: Theater – das ist gewiß ’was zu essen.

Der Oberregisseur des Hamburger Thaliatheaters, K. A. Görner, war der Mann, der das Märchenspiel der großen Bühne zum Weihnachtsmärchenspiel für Kinder umbildete, und sein „Aschenbrödel“ und sein „Dornröschen“, wie seine „Frau Holle oder das fleißige und das faule Mädchen“, die Weihnachten 1880 über die deutschen Bühnen ging, sind seine beliebtesten Schöpfungen geblieben. Während die modernen französischen Märchenspiele in der Hauptsache nur den Hintergrund für großartige Balletteffekte mit Hunderten von Genien und Feen abgeben und sich mehr an das Auge der Erwachsenen wenden, ist das Ohr der Kinderwelt das Ziel der deutschen Stücke. Glanz und Pracht giebt’s freilich auch da genug, und wenn Frau Holle, bestrahlt von einer Magnesiasonne, aus der Brunnentiefe auftaucht, da sieht sie einer Göttin der Liebe nicht unähnlich und gemahnt wohl manchen an Tannhäusers Freundin in dem Venusberge. Aber sonst ist die Gattung weiblicher Wesen, die ihren Sitz auf dem Besenstiel und ihre Heimat auf dem Blocksberge hat, reichlicher vertreten. Ist doch die Hexe neben dem Menschenfresser und dem Wolf die eigentliche Märchenschreckgestalt der Kleinen und in Weihnachtsmärchen kaum zu entbehren, mag sie auch die Gestalt der Frau Königin annehmen, die hier die Schönste ist.

Ganz unerwartet hat sich den deutschen Weihnachtsmärchenspielen vor ganz kurzem ein Stück angereiht, dessen Handlung zwar eigentlich nichts mit Weihnachten zu thun hat, durch das aber doch echte pfefferkuchenduftige Weihnachtsstimmung weht. Es hebt das deutsche Weihnachtsmärchenspiel mit einem Schlage auf eine höhere Stufe. Durch seine Musik eine Oper von hohem musikalischen Werte, ist es eigentlich für die unter den Großen berechnet, die sich gern von einem feinen Ohrenschmause entzücken lassen, aber kraft dem künstlerischen Aufbau der Handlung, der Volkstümlichkeit und schlichten Anmut seines Textes, dem reichen, bunten Geschehen auf der Bühne und der Pfefferkuchenatmosphäre des dritten Aufzuges ist seine Wirkung auf die Kleinen, die noch nicht Motiven lauschen und in Harmonien schwelgen, eine ebenso sichere. Es ist Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, dessen hübscher Text von Adelheid Wette verfaßt ist.

In dem weiten Rund mit seinen roten Sammetpolstern und hundert Lichtern, all dem Glanz und Glast von Gold und Spiegelglas, inmitten von Hunderten von anderen Kindern öffnet sich den Kleinen denn auch eine ganz neue Weihnachtswelt. Der weiße Bart, der Sack und die Rute des Knecht Ruprecht, der heimische Christbaum und die Geschenke vielleicht mit einziger Ausnahme des neuen Schaukelpferdes – sie alle verbleichen vor der Pracht, die sich hier aufthut, und die Weihnachtshoffnung und Weihnachtserwartung tritt hinter der atemlosen Spannung zurück, mit der jedes Beben des Vorhanges beobachtet wird. Da tönt das Glöckchen. Ein augenblickliches Schweigen huscht durch das Haus, um gleich wieder dem vorherigen Stimmengewirr Platz zu machen. Beim zweiten Klang setzt sich alles in Schaubereitschaft, die kleinen Hälse strecken sich und die kleinen Augen lugen zwischen den Köpfen der Vorderleute hindurch. Die prächtige, kräftige Musik rauscht durch den Raum, der Vorhang steigt, und da liegt sie offen vor den Augen da, die armselige Besenbinderhütte, durch deren Fenster der Wald hereinschaut. Da sitzt das arme Hänsel an der Thür und bindet Besen, und das bedauernswerte Gretel muß am Strumpfe stricken, immer einmal herum nach dem anderen. Und dabei haben die Geschwister Hunger, daß ihnen der Magen knurrt. Seit Wochen nichts als trockenes Brot!

Wie das klingt, wenn man an die großen Stollen daheim denkt! Wenn man den beiden etwas davon geben könnte!

Bis die Eltern heimkommen, sollen sie fleißig sein; wie schwer das sein muß, so still zu sitzen! Freilich können sie’s auch nicht über sich gewinnen, bei der Arbeit zu bleiben. Da steht das unartige Hänsel auf und will tanzen, und dem Gretel gefällt dies so gut, daß es den Strickstrumpf hinwirft. Und nun tummeln sich die beiden, daß die Kindergesichter im Zuschauerraume erstrahlen und die Lust mitzutanzen in den kleinen Beinchen zuckt.

Mit dem Köpfchen nick, nick, nick,
Mit dem Fiugeccheu tick, tick, tick,
0 Einmal hin, einmal her,
0 Rund herum, es ist nicht schwer!

Das ist eine Lust und ein Vergnügen. Hunger und Arbeit sind vergessen, und die Kinder tanzen, bis sie beide übereinander zu Boden purzeln. Da giebt’s ein lautes Hallo: das ist manchem Mitglied des kleinen Publikums auch schon passiert. Laut jauchzt es auf und verstummt gleich wieder. O Schreck! In der Thür steht die Mutter, die strenge Mutter des Märchens: die Gesichtchen verziehen sich furchtsam; denn nun geht ein Donnerwetter los.

Wie, Gretel, den Strumpf nicht fertig gestrickt?
Und Du? – Du Schlingel! In all den Stunden
Nicht ’mal die wenigen Besen gebunden?
Ihr unnützen Rangen! Den Stock will ich holen,
Den Faulpelz werd’ ich euch beiden versohlen!

Da stößt die erzürnte Mutter gar noch den gefüllten Milchtopf herunter! Die armen Kinder! Wie kann Hänsel auch noch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 865. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_865.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)