Seite:Die Gartenlaube (1894) 874.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

magst auch zerrissen herumlaufen und zuschauen, wer Dir Dein Zeug flickt!“

Laut krachend flog die Thüre zu. Nach ein paar Augenblicken wurde sie wieder aufgerissen und Felice steckte den Kopf in den Küchenraum: „Thust Du vielleicht etwas, nichtsnutziges Weib?“

„Nein,“ kreischte sie, „nein, nein, ich rühre nichts an, so lange Du nichts thust!“

Ein Fluch aus dem Munde des Mannes, und die Thüre flog abermals ins Schloß.

So oft aber die beiden vors Haus traten, um nach dem Buben auszuschauen, trafen sie ihn nie anders als thätig. Sein rundes braunes Gesicht war ganz hager geworden und seine früher so blitzenden Augen glimmten ernst und düster wie erlöschende Kohlen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt: „Wenn ich all den Schutt, der um das Haus liegt, in den Steinbruch gefahren habe, verzeiht mir vielleicht Gott –“

Und obgleich ihm das Heimweh fast die Seele verzehrte – er wischte sich mit dem Rücken der Hand die Thränen von den Wangen und biß die Zähne aufeinander.

So war die Weihnachtszeit herangekommen; es regnete wohl manchmal, aber kalt war es nicht, und der Hans Sepp erachtete es für ein besonderes Unglück, in einem Lande leben zu müssen, dem der Winter keinen Schnee brachte. Jetzt hatte die weiße glitzernde Decke längst sein geliebtes Hochthal eingehüllt und still und friedlich lebte jeder in seiner Hütte.

Zwar die zwei sich beständig ihre Faulheit vorwerfenden Menschen schienen sich mit einem Male eines anderen besonnen zu haben. Felice hatte den Anfang gemacht; das fremde Kind da draußen, das nie müde wurde, seinen Schutt aufzuladen und zum Steinbruch zu fahren, hatte es ihm angethan: ein Gefühl der Scham bemächtigte sich des Mannes, und eines Tages machte er sich in aller Stille über seine Gerätschaften her und begann zu arbeiten. Kaum aber hörte ihn das Weib in seiner Bude hämmern, als sie schleunigst zur Nadel griff und wie von Sinnen drauf los nähte. Draußen der Bub’ verwunderte sich: was ihnen nur ist, sie schlagen ja keine Thüren mehr zu?

Er sollte eine noch größere Ueberraschung erleben; er hatte ohne ein Wort der Klage die unbeschuhten Füße mit alten Lappen zu umwickeln gesucht und seine zerfetzte Jacke mit Nadeln zusammengesteckt – da, am Weihnachtsmorgen fand er vor seinem Lager ein Paar gute nägelbeschlagene Schuhe und ein buntfarbiges baumwollenes Hemd. Das hatten sie ihm heimlich hingelegt, der Felice und sein Weib. Als sich der Hans Sepp aber mit ein paar aufgeschnappten italienischen Brocken bei ihnen bedanken wollte, lachten sie ihn aus, und keines wollte von der Sache wissen.

Mit der Zeit schämten sich die beiden ihres Fleißes immer weniger, und als das Frühjahr kam, mühte sich nicht mehr der Bub’ allein mit dem Schuttfahren ab, auch Felice und sein Weib fuhren im Schweiße ihres Angesichtes ihren Karren zum Steinbruch. Und so stand eines Tages die Hütte auf geebnetem Boden und ringsumher in die feuchte Erde streute das Weib den Samen zu kommendem Wohlstand. Felice aber sagte zu dem Buben, den die milde Frühlingsluft um seine letzte Kraft zu bringen drohte: „Wie ist’s, kommst’ mit? Morgen geht’s auf den Cevedale.“

Dem Hans Sepp blieb die Antwort in der Kehle stecken; er ging rasch weg, um seine Erregung nicht zu verraten.

Am andern Morgen stand er schon in aller Frühe vor dem Häuschen; alles hatte er sich aufgepackt, beide Rucksäcke, Pickel und Seile; sein Antlitz glühte vor Eifer. Felice lachte laut auf, nahm das meiste an sich, und so schritten sie selbander davon. Das Weib kam ihnen nachgestürzt: „Bring’ ja den Buben wieder mit!“ empfahl sie ihrem Gatten; dann machte sie ein Kreuzeszeichen auf Hans Sepps Stirne: „Du warst unser guter Engel!“

Unterhalb des Cevedale trafen Führer und Touristen zusammen, und der Aufstieg begann.

O, die Heimatluft, die kräftige Luft der Alpen, sie gab der kleinen schuldgepreßten Brust des Verbannten den ersten glücklichen Augenblick wieder! Und als er erst oben stand und sein kleines Thal erblickte, tief drunten, nicht größer als die Fläche einer Hand, da vergaß er alles, was bisher wie ein Alp auf seiner Seele gelegen hatte, und jauchzte hinaus, daß es von den Bergen widerhallte.

Felice aber, der hinter ihm gestanden, klopfte ihm mit einem bedeutungsvollen Lächeln auf die Schulter. „So, jetzt weiß ich auch, wo Deine Heimat ist.“

Der Hans Sepp wurde dunkelrot. „Aber ich bleibe bei Dir, Felice,“ flüsterte er.

„Und warum?“ fragte der Mann.

„Ich will ein großer Führer werden,“ lautete die ausweichende Antwort des Buben.

Des Morgens in der Frühe, bevor sich noch einer in der Schutzhütte, wo man genächtigt hatte, rührte, schlich der Hans Sepp hinaus ins Freie. Es tagte eben; er nahm den Weg über die kolossalen Moränen des Suldenferners. Dem Thale strebte er mit stürmisch pochendem Herzen zu; dort im Lärchenwald konnte er sich verbergen und hinabsehen in sein Heimatthal – vielleicht daß er den Fex erblickte!

An der Ortlerspitze leuchtete das Frührot, als der Hans Sepp zur Stelle kam, von wo aus er sein geliebtes Thal zu überblicken vermochte, ohne daß er Gefahr lief, von unten gesehen zu werden. Zitternd stand er zwischen dem dichten Gestrüpp der hohen und niedrigen Bäume und lauschte, ob nicht etwa ein Hirte die Kühe dahertreibe. Plötzlich schrak er zusammen, der dumpfe Knall eines Schusses war an sein Ohr gedrungen, gleich darauf blitzte es durch die Bäume, Gesang ertönte, und die Glocken des Kirchleins läuteten feierlich zusammen. Jezt wußte der Hans Sepp, sie hatten einen Bittgang drunten, und er riß den Hut vom Kopf und preßte ihn mit seinen hageren Händen krampfhaft gegen die Brust; mechanisch, mit heiserer Stimme sang er die wohlbekannten Lieder mit, derweil sein Blick dem roten Baldachin folgte, unter dem der Herr Kurat mit dem Allerheiligsten in den Händen über die Wiesen schritt. Und er, er da oben war ausgeschlossen, durfte sich nie mehr in den vertrauten Kreis mischen – er war

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 874. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_874.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)