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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

entschlummern, des Blühens und des Sommers müde. Wenn man auch so einschlafen könnte, um nach köstlicher Ruhe zu einem Frühling zu erwachen! Warum mußte man weiterleben, immer weiter, unter einem grauen Himmel, ohne Sonnenstrahl, ohne Wärme, verlassen, allein im fremden Lande unter fremden Menschen? – Es wäre so schön, so märchenhaft, wenn Robert noch einmal vor mir stände wie in der Todesnacht Mamas, um zu sagen: „Komm, Anneliese!“ Aber das that er nicht wieder, zu viel Schuld lag zwischen uns, schwere Schuld – fremde Schuld.

Eine schüchterne Stimme in mir wollte widersprechen: aber er liebt Dich ja doch, er wird kommen; Geduld, Anneliese, Geduld! Allein Geduld war nie meine Stärke; wie kann man geduldig sein, wenn man liebt und meint, der, den man liebt, teile unsere Sehnsucht nicht. Nein, er liebte mich nicht! Erbarmen war es gewesen, Mitleid mit dem armen gequälten Ding! Nun wußte er die Qual beendet, die Freiheit war angebrochen – flieg’ hinaus, Du gefangener Vogel, such’ Dir ein schützendes Dach unter fremden Menschen!

Kurz und gut, sagte ich und wischte nur die feuchten Augen, wenn er hätte kommen wollen, wär’ er längst da, und deshalb vorwärts wie eine tapfere Soldatentochter! Sei Deines Vaters rechtes Kind, der so oft sagte: „Es wird mit nichts auf der Welt mehr Verschwendung getrieben als mit der Zeit, die man mit Gedanken über Unabänderliches, Geschehenes vergeudet, indem man sich ausmalt: wie hätte es sein können, wie ist es nun!“ Freilich, es ist schwer, aber Mut, Anneliese! Heute, als allerschwersten Anfang, bezeichne einmal die Sachen, in deren Mitte Du aufgewachsen bist, die Möbel und Geräte des Vaterhauses, die Du nicht mitnehmen kannst in die Fremde und die die Tante Komtesse Dir aufbewahren will! Wo sie es nur unterzubringen gedenkt in ihrem kleinen Hause? Gott mag es wissen. – Also vorwärts!

Mit einem Ruck, über den ich selbst lächeln mußte, löste ich mich von dem Baumstamm und schritt im Nebel durch den Garten dem Hause zu. In meinem Stübchen war es schon ganz finster, aber das Feuer im Kachelofen glühte und warf seinen roten Schein auf die Dielen. Es war so anheimelnd nach dem Nebel draußen. Ach, wer weiß, wo man so ein liebes trautes Plätzchen wiederfindet, um seine Gedanken auszuspinnen in heimlicher Einsamkeit? Wer weiß, ob je wieder Augenblicke für mich kommen werden, die mir, mir ganz allein gehören, und wäre es auch nur, um sie zu verbringen in Sehnsucht, in heißer aufflammender Sehnsucht nach einem freundlichen Wort, nach einer Liebkosung von der alten runzligen Hand der Base? Ich hatte sie doch lieb, diese meine Heimat, trotz allem und allem, von der Zeit her lieb, in der mir das alte Haus noch wie mein eigenes Besitztum erschien, wo Papa und Mama fröhlich waren und ich in der Dämmerstunde zwischen ihnen auf dem Sofa saß, den kleinen Hund auf dem Schoß, und hinter mir die Hände der beiden sich gefaßt hielten in stiller Zufriedenheit. Dann kam all das Schwere, aber der Glanz von damals war doch so mächtig, daß er hinwegleuchtete über das Elend und es mir in diesem Augenblick unmöglich erscheinen ließ, diese Heimat für immer zu verlassen. Herr Gott ja, der Abschied, wäre der nur erst vorüber!

Ich blieb sitzen und starrte mit brennenden Augen in die Glut. Ach, ein Feuer gab’s wohl überall, um sich zu wärmen, und Menschenglück blühte noch viel auf der Erde, aber es war nicht mein! Doch wer hinauszieht unter fremde Menschen, der soll sein persönliches Empfinden und Wünschen mit den andern unnötigen Dingen über Bord werfen als unnützes Reisegepäck. Ich wollte, die Komtesse gäbe den Plan auf, mich nach Hamburg zu begleiten. Wozu die Qual des Abschieds verlängern? O, ich hatte Deutschland so lieb! Ist denn Deutschland nicht groß genug, um sich irgendwo zu verstecken, mußte denn gleich das Meer zwischen mich und meine unglückliche Vergangenheit geschoben werden?

Im Nebenzimmer klapperte die Base mit dem Kaffeegeschirr. Unglaublich, wie früh es dunkel wurde bei dem Nebel! Und in England würde der Nebel noch viel schlimmer sein – ach, und ich liebte die Sonne so sehr! Den ganzen Tag Licht brennen und die Kinder, die vielleicht recht unartig waren, dabei im Zimmer haben – zwei Jungen und ein Mädchen – dazu diese Sehnsucht – vielleicht würde ich krank werden und sterben. Ob es wirklich Leute gab, die am Heimweh starben? Aber ehe man stirbt, wird man krank, und wie schrecklich ist Kranksein in der Fremde, in einem Hospital, wo eine Menge Betten an den Wänden steht und in jedem Bette ein stöhnender Mensch liegt, wo zu der eigenen Qual noch die der anderen kommt!

Ja, das konnte mir auch werden!

Die Glut im Ofen erlosch. Die Base rief mich nicht, es mußte jemand gekommen sein, mit dem sie sprach, vielleicht der Gärtner oder der Postbote oder – – Dann ging die Thür hinter meinem Rücken, ein Lichtschein streifte einen Augenblick den alten braun und weiß gesprenkelten Kachelofen, dann schloß sich die Thüre wieder; die Base hatte wohl herein geschaut, ob ich da sei, und hatte mich nicht gesehen.

Nun war es wieder dunkel und still. Oder war doch jemand eingetreten? Eine thörichte Furcht überfiel mich, als stände ein menschliches Wesen hinter mir und betrachtete mich.

Auf einmal sagte eine Stimme: „Anneliese!“ – leise, zitternd, eine Stimme, ach, eine Stimme – träumte ich denn? Regungslos blieb ich sitzen.

„Anneliese, hast Du nicht auf mich gewartet?“

Ich wollte mich aufrichten, aber ich vermochte es nicht, so bebte ich. Da bückte er sich und hob mich empor.

„Hast Du nicht gewartet, hast Du nicht gedacht, daß ich heute komme, heute, wo meine Militärzeit zu Ende ist? Schickst Du mich wieder fort? Nein, Du kannst nicht, Du darfst nicht, Anneliese, denn, siehst Du, nun ist mein Vater wieder ein Ehrenmann, wie der Deinige es war, und Du brauchst Dich nicht zu schämen, Anneliese Nordmann zu heißen. Anneliese, sprich doch ein Wort!“

Aber ich konnte dies Wort nicht sprechen, so gerne ich’s wollte – ich weinte.

Da führte er mich zu dem alten Großvaterstuhl am Ofen und ich setzte mich hinein und er kniete vor mich hin. „Mein kleines Mädchen, hör’ auf zu weinen, Thränen sind gar nicht mehr für Dich, dazu sollst Du nie, nie wieder Grund haben. Denk’ nicht mehr an die Vergangenheit, an die schrecklichen letzten Jahre, an alles, was sie Dir nahmen; denke daran, daß diese Zeit uns einander gegeben. Weißt Du noch – die Neujahrsnacht im Schlitten? Du meintest, es sei ein Abschiedskuß? Ich auch – aber nur einen Augenblick, dann wußte ich, es war der Anfang eines wundervollen Glücks. Und da oben in der alten Mühle, hörst Du, da wollen wir Hochzeit feiern. Nicht jetzt, nein, nein, aber Du sollst gleich dort wohnen, ich will Dich dort wissen, wenn ich an Dich denke. Du gehst mit der Base hin, sobald als möglich. Uebers Jahr, Weihnachten übers Jahr, dann komme ich, dann führt uns der Schlitten in das kleine Kirchlein, Anneliese, und nachher gehen wir an das Grab der Mutter, und ehe wir hinausreisen in die weite Welt, legt uns die Base ihre Hände auf das Haupt, die alten treuen Hände, die uns die teure Heimat schützen sollen, bis ich Dir meine neue im fernen Weltteil gezeigt, Anneliese.“

Es braucht niemand zu erfahren, was ich antwortete. Wir haben uns spät am Abend getrennt mit einem „Auf Wiedersehen!“ und die Base hat glückselig dabei gestanden mit ihren alten trüben Augen, denen zu lieb sie die Thränen herzhaft unterdrückte, „denn, Robert, das Salzwasser brennt so und die Augen sind krank und ich möchte sie so gern noch ein wenig schonen, um endlich einmal zu schauen, wie das Glück aussieht.“

Meine Zuflucht war an diesem Abend wieder der alte Großvaterstuhl neben dem Kachelofen. Die Base schlief fest und beruhigt nebenan, ich aber – wie hätt’ ich schlafen können, nach diesen Glücksstunden! Ich schmiegte mich mit dem köstlichen Gefühl des Geborgenseins in die ehrwürdigen Polster und sagte leise zu mir: „Uebers Jahr – Weihnachten übers Jahr!“

Am andern Morgen suchte ich die Komtesse auf. Sie saß in der blitzsauberen Küche und schälte Quitten zum Winterkompott. „Tante, ich gehe nicht nach England, schreib’ nur ab!“ rief ich ihr entgegen.

„Das ist unmöglich, bedaure!“ antwortete sie trocken und zog ein sehr beleidigtes Gesicht.

„Liebe Tante, es muß sein, bitte, bitte!“

„Nein. Ich habe mir die Finger fast lahm geschrieben – jetzt wird nichts mehr geändert. Du kannst Gott danken, daß Du eine solche Stelle bekommst – monatlich hundert Mark und nur drei Gören zu unterrichten! Du fängst geradeso an wie Deine Mutter – man muß wissen, was man will.“

„Aber, Tante, ich weiß genau, was ich will, ich will bei der alten Base bleiben, droben auf der Mühle.“

„I, Gott bewahre! Wie darfst Du der alten Person noch ihr Bissel Gnadenbrot wegessen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_879.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)