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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Wenn ich Dir aber sage, daß die Base beinahe mein Gnadenbrot ißt, Tante, beinahe –“

„Lieber Himmel, Du hast wohl etwas von Wollmeyer geerbt? Anneliese, Du wirst doch das nicht nehmen! Sonst –“ Und sie fuhr mit ihrem klebrigen Küchenmesser über die weißgescheuerte Platte des Tisches, „sonst zerschneide ich feierlich das Tafeltuch zwischen uns; dann bist Du das Mädel nicht, für das ich Dich bis jetzt hielt.“

„Ich habe nichts geerbt, ich habe mich nur verlobt, Tante; aber vorläufig darf es noch keiner wissen außer Dir.“

Sie ließ mich ausreden; ihr großes, sonst so bewegliches Gesicht sah mich starr an. „Unsinn!“ sagte sie, warf Messer und Quitten in die Schüssel und stellte diese so kräftig auf den Küchentisch, daß es mir heute noch unerklärlich ist, wie das irdene Ding es aushielt, ohne zu zerbrechen. „Komm’ mit herauf – – da ist natürlich wieder eine Dummheit passiert!“

Oben bestand ich nun ein Verhör, kreuz und quer durcheinander, ein Richter hätte es nicht besser machen können.

„Daß sich Gott erbarm’, so etwas!“ rief sie endlich. „Und davon hast Du mir nie eine Silbe erzählt? Na, komm’ her – ich gönn’ es Dir, und bei der Hochzeit bin ich selbstverständlich, und – er ist ein anständiger Mensch, sonst hätte er das Sündengeld eingesteckt, anstatt es den Armen zu geben.“

„Ich soll Dich grüßen von ihm, Tante, und ob Du für Deine Kleinkinderschule die unteren Zimmer im Schlosse hier gebrauchen könntest? Der obere Stock wird für die Waisen eingerichtet, und der erste, der da hineinkommt, ist der Knopfmarthe ihr Junge.“

„Himmel, da spare ich ja zweihundertfünfzig Mark Miete – natürlich! Ihr wollt nicht hier wohnen? Kann’s Euch nicht verdenken. Freilich nehm’ ich’s an, freilich.“

„Und, nicht wahr, Tante, noch bleibt’s Geheimnis? Sieh, er und ich wollen uns auch jetzt nicht sehen, ich will nicht ganz glücklich sein jetzt, ich traure noch um Mama.“

Sie nickte und preßte mich an sich. „Da hat doch Len’ ihr Opfer nicht ganz umsonst gebracht,“ sagte sie.


War das ein Winter, der nun folgte im Schnee der Berge, war das ein Sommer im Grün der Wälder, immer in Gedanken an ihn, immer im Bewußtsein eines Glückes, das mit jedem Tage näher heranzog! Kein Schritt in die grüne Tannenwildnis hinein ohne eine liebe Erinnerung, kein Blick auf die Wände der traulichen Zimmer ohne die Ahnung künftiger schöner Tage! Und wenn Robert auf Besuch kam, wenn Hübner den netten Korbwagen aus der Remise ziehen ließ und die dicken Pferde einspannte, um den „Herrn“ von der Bahn zu holen, wenn ich hinausspähte eine ganze Stunde zu früh – kommt er noch nicht? – und wenn er dann da war, wenn er die Stufen der Treppen mit zwei Sätzen nahm und die Thüre in weiteren zwei Sprüngen erreichte und wir uns dann in die Arme fielen – o, eine solche Seligkeit gab es nicht noch einmal in der Welt!

Wir bestimmten Veränderungen und Verschönerungen des liebsten Erdenplätzchens, das nun die Mühle und das Herrenhaus sein und bleiben sollte; wir machten eine Stiftung für Arme; wir ließen uns die Pläne zu einem Schulhause vorlegen – das alte war schier am Zerfallen – und ein halbes Jahr lang stickte ich an der Altardecke, die bei unserer Trauung zum erstenmal in der kleinen Kirche prangen und immer nur bei Hochzeiten aufgelegt werden sollte.

Die Base holte all ihre köstliche Leinwand hervor und ließ sie zerschneiden, und dann war das Weihnachtsfest da, welches das allerschönste für mich werden sollte.

Robert kehrte erst drei Tage vorher aus Amerika zurück; er war im Juli hinübergegangen. Am heiligen Abend kam er zu mir, am zweiten Feiertag sollte die Hochzeit sein.

Wieder schneite es und wieder lag heilige Stille über den schweigenden Wäldern und Bergen. Wieder kamen die Dorfleute mit Tannenbäumchen aus dem Forst und wieder roch es nach Hübners Festkuchen. Wie damals schleppten die Postboten sich fast tot an Paketen und wie damals ging ich die Landstraße entlang; aber diesmal nicht traurig und verlassen – diesmal, ja diesmal – –

Wären heute Arm in Arm meine Eltern hinter mir geschritten, es hätte doch einmal auf der alten Erde ein vollkommenes Glück gegeben! Aber freilich, die bange Vergangenheit lag wie ein wehmütiger Schleier über all dem Zauber der Gegenwart.

Und da war es wieder, das kleine Mäuerchen, auf dem ich vor zwei Jahren gesessen; und wie damals schob ich den Schnee hinunter und setzte mich wartend darauf; wie damals ließ ich die Blicke schweifen über die stille weihnachtliche Waldeinsamkeit. Aber in mir war nichts als Dank und Erwartung und ein weiches süßes Glücksgefühl, das sich zu pochendem Herzklopfen steigerte, als der Dreiklang der Schlittenglocken durch die stille Luft scholl.

Ich blieb ganz ruhig sitzen, als das Gefährt um die Ecke bog. Zuerst kamen die Pferdeköpfe in Sicht, an deren Geschirr rote Seidenschleifen neben den grünen Tannenzweiglein nickten, dann Herr Hübner selbst, im höchsten Staat, mit einem funkelnagelneuen Pelz, und an der Peitsche prangte ebenfalls ein purpurrotes Seidenband. Ich legte die Finger auf den Mund, und er lächelte, er verstand mich; langsam fuhr er heran.

Der Mann aber im Schlitten, der sah und hörte nicht. Er blickte unbeweglich vor sich hin; ein froher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, dem lieben ernsten Gesicht. Ich sah zu ihm hinüber; hatte mein Blick denn nicht die Macht, ihn zu wecken aus seinem Hinbrüten? Doch! Er schaute herüber – mit einem Sprunge war er aus dem Schlitten und hielt mich umfaßt.

„O Du, Du mußtest ja hier sein, hier, an dieser Stelle!“

Der Schlitten fuhr weiter und bog um die Bergwand, wir waren allein mit unserem großen seligen Glück. Ich glaube, wir saßen zusammen auf der Mauer und spürten nichts von Kälte und Schnee.

Zwei Tage später war unsere Hochzeit; wie Robert einst gesagt, so kam es; an der nämlichen Stelle, wo seine Eltern getraut wurden, standen auch wir; hinter uns nur vier Personen: ein Paar merkwürdige Brautjungfern – die Base und die Komtesse, und dann Herr Hübner und seine prächtige Frau. Als ich zurückschritt an Roberts Seite,-da sah ich nichts als Menschen, lauter freundliche gerührte Gesichter, und die Jungen hielten uns seidene Bänder vor und die kleinen Mädchen streuten Tannenzweige und vom Chor sangen die Schulkinder: „Lobe den Herrn!“

Ach, nur eines fehlte noch: meine Mutter, meine arme Mutter!

Die Komtesse verstand meine Thränen; sie schloß mich in dem schmucken Speisesaal unseres Hauses in die Arme. „Kücken,“ sagte sie, „sie ruht, sie hat Frieden! Sieh, es giebt Menschen, die ruft der Herr zu sich, weil sie sich hier unten nicht zurecht finden – gönn’ es ihr!“

Und als die Dunkelheit herniedersank, hallten abermals Schlittenglocken durch den stillen Wald und zwei junge Menschen fuhren zusammen in die Welt hinaus. „Adieu, Frau Anneliese!“ hatte die Base noch gerufen, und die Komtesse hatte gemeint: „Sieht gerade aus wie eine Frau, das kleine schwarze Ding mit seinem Kindergesicht! Aber die Augen, freilich die Augen!“

Nach einem halben Jahre kehrten wir aus Amerika zurück, um für immer in Deutschland zu bleiben.

O du stille grüne Heimat, wie schön bist du jetzt mit deinem träumerischen Frieden!

Robert hat drüben sein Geschäft verkauft. Wir leben neun Monate des Jahres hier oben in den einsamen Bergen; um nicht ganz weltfremd zu werden, gehen wir dann alljährlich nach Weihnachten in eine größere Stadt. Aber wir zählen die Tage, bis wir wieder in unseren Bergen sind, wo jeder Stein uns kennt und uns die Leute so herzlich grüßen, wo die Mühle klappert, der Bach rauscht und der Wind durch die Baumwipfel braust. Wir haben beide unser Genügen an der Einsamkeit; vielleicht weil wir so Trübes erfahren haben von den Menschen, oder weil wir uns selbst genug sind, wir und unsere beiden Kinder, auf die die Base so schrecklich eingebildet ist und bei denen sie und die Komtesse Patenstelle vertraten. Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir in unseren Bergen am glücklichsten. Robert ist ein musterhafter Gutsherr und ein Mühlenbesitzer – eine solche Mühle soll man lange suchen. Und ich, ich habe neben der Kindererziehung noch viel Zeit für alles Schöne, das mein Interesse erregt, und sehr stimmungsvoll klingt es, wenn ich Klavier spiele und die Mühle klappert den Takt zu Schuberts „Schöner Müllerin“. Dann sitzt Robert in der Fensternische und sieht zu mir herüber, und ihm gegenüber unser Schutzengel, die alte, treue Base, den größten Jungen zwischen den Knien. Träumerisch nickt sie dann wohl vor sich hin – ihre alten Augen haben noch geschaut, wie das Glück aussieht!



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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 880. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_880.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)