Seite:Die Gartenlaube (1895) 038.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Das sollen Sie hier auch nicht, nur ruhen, sich pflegen und viel im Freien sein. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Garten!“

„Gern, ich bin bereit!“

„Setzen Sie keinen Hut dazu auf?“

„Wozu denn? Ich habe ja einen Schirm!“

Sie trug das weiche hellbraune Haar, das sich um Schläfen und Stirn ein wenig kräuselte, im Nacken in einen dicken Knoten zusammengefaßt, was ihre zierliche Kopfform besonders zur Geltung kommen ließ. Keine Nadel im Haar, keine Ohrringe, keine Armbänder, nur an der rechten Hand den glatten Goldreif.

Röder bequemte mit einiger Mühe seinen lebhaften Schritt ihrem langsamen an und führte sie zunächst zu dem stillen Weiher. Hier schien es ihr sehr zu gefallen, sie fragte, ob sie in dem kleinen blauen Kahn, der am Ufer lag, rudern und unter den alten Bäumen nahe beim Wasser ihre Hängematte aufhängen dürfe. Die Laube, der kleine Aussichtstempel, die Blumenbeete und Baumgruppen fand sie gleichfalls schön, aber nach kaum einer Viertelstunde ermüdete sie sichtlich und nahm sein Anerbieten, in der Veranda auszuruhen, dankbar an. Sie sprach nur wenig, aber alles, was sie sagte, gefiel ihm; er mußte auch darüber nachsinnen, ob dies stille Wesen ihrer innersten Natur entspreche oder ein Zeichen ihres Nervenleidens sei. Außerdem mühte er sich in der Stille unaufhörlich ab, irgend eine Aehnlichkeit mit Margot aufzufinden, sei es auch nur im Tonfall der Stimme oder in den Bewegungen. Aber umsonst! Höchstens die Gestalt war mit der der Mutter zu vergleichen, doch hatte Margot rundere Formen und eine weit größere Beweglichkeit besessen, was sie kleiner erscheinen ließ. Gabriele gestikulierte nie. So wie sie sich in dem bequemen Lehnsessel in der Veranda niedergelassen hatte, den Kopf leicht an das Polster zurückgelehnt, die Hände übereinander gelegt, so blieb sie auch während des Sprechens. Sie hatte eine seltsam unbefangene Art, Röder unverwandt anzusehen, als wolle sie sein Gesicht studieren, und ebensowenig schien es sie in Verlegenheit zu setzen, wenn sein Blick auf ihr ruhte. Immer wieder kam ihm, während er mit ihr redete, der Gedanke, das Gesicht der jungen Frau, die da vor ihm saß, sei nicht das wahre, sie könne ganz anders aussehen, ganz anders blicken wie jetzt, doch erregte ihm diese Empfindung kein Unbehagen, im Gegenteil, sie weckte sein Interesse, und er fragte sich im stillen, ob er wohl die richtigen Züge zu sehen bekommen und wann dies geschehen würde. Im ganzen war Röder nicht das, was man einen guten Gesellschafter nennt. Mit Freunden und Bekannten wußte er angeregt und lebhaft zu plaudern, Fremden gegenüber war er meist unzugänglich. Diesen klugen blaugrauen Augen gegenüber, die so beharrlich auf ihn gerichtet blieben, war indessen seine gewohnte Zurückhaltung ganz verschwunden, vielleicht kam auch der Umstand hinzu, daß es seiner Pflegeschwester Margot Tochter war, zu der er sprach, kurz, er erzählte weit mehr von sich, seinen Erlebnissen, seinen Arbeiten, als er es Leuten gegenüber gethan hatte, die er seit Jahren schon kannte. Gabriele Hartmann besaß die bei Frauen seltene Gabe, gut zuzuhören, und den Redenden störte es durchaus nicht, daß sie nur höchst selten ein kurzes Wort oder eine Frage dazwischen warf.

Sie machten dann, da er zufällig seines Arbeitszimmers erwähnte, einen Rundgang durch das ganze Haus. Neben seinem Studierwinkel hatte er sich ein kleines Zimmer zur Bibliothek eingerichtet, ein paar große Fächerschränke und lange Wandbretter waren ganz und gar mit dichten Bücherreihen gefüllt. Neben dem Fenster stand ein weicher Polsterstuhl und eine mit bunten Decken behangene Ruhebank.

„Wenn es Ihnen hier gefällt und Sie Lektüre wünschen,“ erklärte der Hausherr, „so können Sie jederzeit nach Belieben aus- und eingehen – sehen Sie, das Zimmer hat noch seinen besonderen Eingang vom Treppenflur. Dort am Fenster können Sie bequem ruhen oder auf dem Sessel sitzen, mich stören Sie nicht, da ich die Bücher, deren ich bedarf, in meinem Zimmer habe. Ich fürchte freilich, daß meine kleine Bibliothek nicht viel ansprechende Damenlektüre enthält und daher keine besondere Anziehungskraft für Sie besitzen wird!“

„Vielleicht doch!“ erwiderte die junge Frau mit einem flüchtigen Lächeln.

Im Salon sah es noch ein wenig kahl aus. Röder hatte auf die Ausstattung dieses Raumes kein besonderes Gewicht gelegt, da er nicht daran dachte, Gesellschaften zu geben, und Leute, die ihn gemütlich besuchten, in seinem Wohnzimmer empfing. Jetzt mißfiel es ihm doch sehr, daß der Salon einen so unwohnlichen Eindruck machte. Der schwarze Stutzflügel bildete das beste Stück der ganzen Einrichtung.

„Ich muß Ihnen erklären, wie ich dazu gekommen bin, damit Sie mich nicht etwa in dem schmeichelhaften Verdacht haben können, ein guter Musikant zu sein. Ein junger Bekannter von mir, ein etwas lockerer Vogel, übrigens liebenswürdig und sehr musikalisch, wurde von seinem gestrengen Herrn Papa nach Amerika spediert. Ob das Gewaltmittel für eine Natur wie die seinige das richtige war, wage ich nicht zu entscheiden, jedenfalls konnte ich den Vater nicht hindern, seinen Machtspruch zu vollziehen. Der junge Mensch sollte ihm nun zuguterletzt alle seine Schulden mit Angabe der Veranlassung und des Gläubigers beichten, und da er wahrheitsliebend war, so that er dies auch, mit einer einzigen Ausnahme. Diese Schuld war derart, daß der alte Herr ohne Zweifel in die heftigste Wut geraten wäre und den Sohn mit tausend Vorwürfen überschüttet hätte, was nach der unabänderlichen Lage der Dinge nichts mehr genützt, sondern Vater und Sohn einander nur noch mehr entfremdet hätte. Der Junge hatte sich mir anvertraut, um meinen Rat gebeten. Nun, da die Summe nicht allzu groß war, so gab ich sie ihm, mußte aber von ihm, den dieser „Akt der Großmut“, wie er mein doch sehr natürliches Verfahren nannte, ganz überwältigte, als eine Art Unterpfand diesen schönen Blüthnerschen Flügel annehmen, das einzige wertvollere Eigentum, über das er frei verfügen konnte. All meine Weigerungen halfen mir nichts, er behauptete, sich nicht eher beruhigen zu können, als bis ich ihm den Willen thäte, er würde sonst erdrückt von seinem Dankgefühl und so weiter und so weiter. Da ich ihn wirklich gern hatte und ihn weder beunruhigt noch von Dankesgefühlen erdrückt sehen wollte, was blieb mir am Ende übrig, als den Blüthner, der übrigens für mich tausendmal zu gut ist, anzunehmen? Ich liebe die Musik unbeschreiblich, bin aber für meine Person nur ein mittelmäßiger Dilettant. Sind Sie musikalisch, Frau Gabriele?“

Wieder huschte das flüchtige Lächeln von zuvor über das blasse junge Gesicht, aber es ließ nichts als eine tiefe Traurigkeit in den Augen zurück.

„Ich könnte jetzt nicht musizieren,“ sagte sie matt, „die Musik thut mir weh!“

Er sah sie mit einem warmen teilnehmenden Blick an. „Dann lassen Sie es jedenfalls, wenigstens fürs erste. Vielleicht kommt doch bald einmal die Zeit, da mein Blüthner zu singen anfängt!“

Bei Tisch gestaltete sich die Unterhaltung nicht besonders lebhaft, dank Mamsellchens häufiger Anwesenheit, die sich’s nicht nehmen ließ, ihren Doktor selbst zu bedienen. Der alte Hausgeist trug vortrefflich bereitete Speisen auf, ließ es auch an der gebotenen Höflichkeit nicht fehlen, diese Höflichkeit trug aber zu deutlich den Stempel des Erzwungenen, um angenehm zu wirken. Mamsellchens scharfe schwarze Augen beobachteten die junge Frau wie zwei Spione und gingen dann mit einem so mißtrauischen Blick zu ihrem Herrn zurück, daß dieser zum Lachen gereizt worden wäre, wenn er sich nicht geärgert hätte. Dazu kam noch, daß die junge Fremde keinen noch so unschuldigen Kunstgriff anwendete, um sich Mamsellchens Gunst zu erobern, sie war ganz die vornehme Dame einer dienenden Persönlichkeit gegenüber, während sie sich mit ein paar zutraulichen Worten das Herz der alten Getreuen, die so gutmütig war, hätte gewinnen können. So fror Mamsellchen immer mehr ein, und mit jedem neuen Gericht, das sie auftrug, legte sie ihre Mißbilligung der bestehenden Verhältnisse deutlicher an den Tag. Wenn der Gast wenigstens vernünftig essen, der Kochkunst des Hausgeistes mehr Ehre hätte anthun wollen! Aber die junge Frau aß wie ein Vögelchen und streckte schon nach dem Gemüse die Waffen. „Auch das noch!“ schien Mamsellchens vorwurfsschwerer Blick zu sagen, als sie dies erlebte.

Völlig erschöpft, wie wenn sie die anstrengendste Arbeit hinter sich hätte, beurlaubte Gabriele sich dann, und bis zum Abend blieb sie auf ihrem Zimmer.

Der Doktor machte einen weiten Gang durch Wald und Feld und kehrte erfrischt, mit gesundem Appetit nach Hause zurück. Seinen Gast fand er in der Laube, eine Häkelarbeit im Schoß, die Hände müßig darüber gefaltet.

„Immer müde?“ fragte er mit seiner warmen teilnehmenden Stimme und strich vorsichtig mit seiner kräftigen Rechten über die schlaffen feinen Hände.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_038.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)