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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

nachgespürt – eine so schlaue Jägerin konnte die Fährte des harmlosen Wildes nicht leicht verlieren!

Franzel kam heim, und während sie im Flur ablegte, ging die graue Schwester mit einem Tablett voll leerer Flaschen und Gläser vorüber. „Der Herr Rat weiß, daß Sie ausgegangen waren, gnädige Frau. Fräulein von Hagen hat es ihm leider gesagt,“ bemerkte die Schwester und fügte in ihrer bescheiden-gelassenen Weise hinzu: „Ich meine, es wäre besser, Fräulein von Hagen käme nicht mehr zum Herrn Rat, sie regt ihn sehr auf.“

„Da haben Sie recht, Schwester!“ erwiderte Franziska aus tiefstem Herzen. Dann ging sie zu Ernst hinein.

„Wo warst Du, Franzel?“ fragte der Kranke, der bleich und abgespannt dalag.

Franziska legte lächelnd ein Veilchensträußchen und ein paar Apfelsinen auf seine Bettdecke. „Ein bischen Luft geschöpft, Du lieber Tyrann,“ sagte sie heiter. „Seit Schwester Valerie hier ist, vermißt Du mich ja doch nicht mehr!“

„Und ich bat Dich, Du solltest Dich schonen, Franzel, aber ich sehe, ein kranker Hausherr hat beinahe nichts mehr zu sagen! Du bist eine ganz unfolgsame kleine Frau geworden!“ tadelte Ernst.

„Schilt nicht! Die Sonne schien so hell, und die frische Luft hat mir gut gethan.“ Thatsächlich war die junge Frau mit einem von der Kälte und dem schnellen Gehen geröteten frischen Gesichtchen heimgekehrt; aber ein heftiger Hustenanfall unterbrach sie mitten im Reden.

„Siehst Du, Franzel, das hast Du nun davon! Wie Du mich ängstigst, Kind!“ schalt der Kranke nun ernstlich besorgt. Sie beruhigte ihn, das ginge vorüber; sie hätte jedes Frühjahr solch einen leichten Anfall.

Aber es ging nicht so schnell vorüber.

Gegen Abend stellte sich ein leichtes Fieber ein, und dabei hustete Franzel so stark, daß der Doktor ärgerlich den Kopf schüttelte, und Schwester Valerie jetzt thatsächlich zwei Kranke zu pflegen hatte. Strenger Hausarrest ward der leichtsinnigen Patientin auferlegt.

Doktor Böhmer konnte übrigens nicht begreifen, weshalb die junge Frau, deren Gatte jetzt täglich in der Genesung fortschritt, so scheu, so gedrückt war, wie es nicht in den schlimmsten Stunden von Ernsts Krankheit der Fall gewesen. Er sprach hierüber einmal mit dem Regierungsrat. „Ich verstehe nicht,“ meinte er und rieb seine große Nase nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger, „was die kleine Frau quält. Ihr Leiden scheint mir weit mehr seelisch als körperlich. Das bischen Katarrh wäre ja im Grunde gar nicht so schlimm, Sie selber sind auf der Besserung – also, was giebt’s da zu grämen? Hat sie vielleicht von daheim schlechte Nachrichten, die sie irgendwie aufregen? Wir haben da ja allerlei wunderliche Symptome“ – er zählte an den Fingern auf: „kein Schlaf, kein Appetit – eine Ruhelosigkeit und Nervosität sondergleichen, wie ich sie an der gesunden vernünftigen kleinen Frau bislang gar nicht kenne …“

„Sie hat sich eben bei der Pflege zuviel angestrengt, Doktor,“ sagte der Regierungsrat, dem diese Auseinandersetzung – er wußte selbst nicht, weshalb – eine peinigende Empfindung wachrief.

„Hm ja – kann schon sein,“ erwiderte der alte Praktikus, nur halb überzeugt. Er brach das Thema ab, hatte er doch auch diesen Patienten immer noch zu schonen. –

Franzel saß an Ernsts Bett, mit einer leichten Handarbeit beschäftigt; plaudern durfte sie nicht, der Hals that ihr weh, und vieles Sprechen strengte sie an. Ernst studierte nach langer Zeit zum erstenmal wieder die Zeitung – ab und zu richtete er einen besorgten forschenden Blick auf seine Frau, die in tiefe Gedanken versunken an ihrer Stickerei schaffte.

„Woran sie nur denken mag?“ mußte Ernst sich fragen. Ihre Lippen waren wie in grübelnder Sorge aufeinander gepreßt, eine tiefe Falte stand zwischen den feinen, dunklen Brauen; das Gesicht hatte sein liebliches Oval verloren und sah zum Erbarmen blaß und schmal aus, mit tiefen Schatten unter den Augen, die von schlaflos durchwachten Nächten sprachen. Ernst sagte sich voll tiefen Kummers, daß sie etwas vor ihm verberge. Franzel hatte zwar nie ein Geheimnis vor ihrem Gatten gehabt. Ihre Jugend war so kurz, so streng behütet gewesen, daß ihre Seele kaum etwas ahnte von jenen Erlebnissen und Erfahrungen, an denen andere Mädchen zuweilen schon reich sind, ehe sie in den Ehestand treten. Da gab es keine sentimentale Erinnerung an vergangenes Liebesglück, keine verschwiegenen Beziehungen, die aus der Vergangenheit unheilvoll in die Gegenwart herüberreichen. Franzels Seele lag vor ihres Gatten Augen klar und rein wie ein heller Frühlingsmorgen; nicht einmal ein heimliches Winkelchen mit einer kleinen thörichten längstbegrabenen Backfischliebe war darin zu finden.

Und während ihrer Ehe? Da hatte sie Tag für Tag die großen klaren ruhigen Augen zu ihrem Gatten aufgeschlagen, und was er in diesen wundervollen braunen Sternen las, das gläubige Vertrauen, die kindliche Verehrung, die tiefe heiße Liebe ihres keuschen Frauenherzens – all das gehörte ihm, nur ihm allein und hatte seine Seele täglich mit neuem Glück erfüllt. So war’s gewesen bis zu seiner Krankheit. Nein – er entsann sich jetzt genau, obgleich er’s anfangs nicht so beachtet. Schon die letzten Tage vorher war’s, als ob Franziska ihm etwas verschwiege; manchmal nahm sie einen Anlauf, wie um zu sprechen, streifte ihn mit einem unruhig forschenden Blick und hielt dann wieder plötzlich inne oder lenkte die Rede auf etwas Nebensächliches, Gleichgültiges. Damals hatte er’s in seiner täglich wachsenden Abspannung kaum beachtet – jetzt fiel ihm das alles wieder ein, und er zermarterte seinen armen müden Kopf mit diesen sorgenden Fragen.

Ein tiefer Seufzer, der ungewollt sich über Franzels Lippen drängte, machte dem schweigenden Grübeln des Mannes ein Ende und ließ ihn die Hand nach seinem jungen Weibe ausstrecken. „Komm ’mal her, Franzel!“ sagte er sanft, und als sie dann neben seinem Bett niederkniete, nahm er dies blasse süße Gesicht zwischen seine beiden Hände: „Sag’ mir, was Du hast, Kleine! Dich quält etwas, das sehe ich ja – und Du willst mir’s aus Schonung nicht sagen. Aber ich bin jetzt stark und gesund und bitte Dich dringend, sag’ mir’s! Du quälst mich weit mehr durch Dein Schweigen, wie wenn Du ehrlich reden wolltest. Also sprich, Herz – was fehlt Dir?“

Sie schüttelte den Kopf, aber sie mußte die Augen niederschlagen vor seinem treuen, fragenden Blick. Ihr Atem kam und ging hastig wie im Fieber, sie lag in ihres Mannes Armen und ein Zittern und Schauern lief über die zarte kleine Gestalt. Da sie beharrlich schwieg, fiel ihm plötzlich etwas ein, ein wunderlicher Gedanke, der ihn wie eine Erlösung dünkte.

„Franzel, kleine Frau – hast Du etwa Schulden?“ fragte er hastig.

Da mußte sie in all ihrem Kummer doch lächeln; lächelnd und errötend zugleich schüttelte sie den Kopf, machte sich sanft aus seinen Armen frei und barg ihr Gesicht in seiner Bettdecke.

Also das war’s nicht! Ratlos blickte er auf das dunkle Köpfchen nieder und dann – wie ein Blitzstrahl – kam ihm ein anderer Gedanke – ein so neuer, unfaßbarer, beseligender, daß ihm fast das Herz darob stille stand. Er beugte sich hinab und flüsterte in zarter Scheu eine Frage in seines jungen Weibes Ohr. Und Franzel erglühte noch tiefer, grub auch das Gesicht noch tiefer in die Decke hinein – aber sie schüttelte zum drittenmal den Kopf – und seine Hoffnungen zerrannen.

Auch dieses nicht!

Da drängte er nicht weiter in sie, hob sie nur sanft mit seinen noch schwachen Armen empor und sagte ruhig: „Setze Dich, Kind – das lange Knieen strengt Dich an.“

Sie fühlte den stummen Vorwurf in seinen Worten, in seinem ganzen Wesen, beugte sich über seine Hand und küßte sie. „Später sollst Du alles wissen,“ sagte sie scheu und demütig und setzte sich an ihren alten Platz.

Ernst vermied es, sie anzusehen. Scheinbar gelassen nahm er seine Lektüre wieder auf; plötzlich fesselte ihn eine Notiz. „Nein, das ist ja ein wahres Verhängnis heutzutage!“ sagte er erregt. „Die Frauen vor Gericht – das nimmt ja in erschreckender Weise zu. Da ist nun wieder eine Dame der besseren Stände, die Frau eines Oberberginspektors, wegen öffentlicher Beleidigung eines Geschäftsmannes verurteilt worden. Das mußt Du hören, Franzel!“

Da saß nun das arme Weib wie eine verurteilte Verbrecherin und mußte Wort für Wort dieser Gerichtsverhandlung über sich ergehen lassen und durfte nicht mit der Wimper zucken, wie ihr Mann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_047.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)