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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

in harter Rede die fragliche Angelegenheit besprach. Sie hätte ihm den Mund zuhalten, hätte rufen mögen: „Schweige doch, schweige! Indem Du jene verurteilst, verdammst Du Dein eigen Weib!“ Aber kein Laut kam über ihre Lippen, mit angstgequältem Herzen und zitternden Lippen zählte sie mechanisch die Stiche an ihrer Stickerei.

Es klopfte, und Rieke trat mit einigen Briefen in der Hand herein. Man brauchte die Hilfe der grauen Schwester jetzt nur noch während der Nachtstunden, am Tage versah das Stubenmädchen den leichten Dienst, und Rieke verwaltete mit gewohnter Tüchtigkeit und Umsicht das Küchendepartement. Ab und zu ließ sie ihr ehrliches feuergerötetes Antlitz im Krankenzimmer erblicken, tadelte ungeniert, wenn, ihrer Meinung nach, etwas nicht richtig war, fragte nach den kulinarischen Wünschen ihrer Herrschaft und ermahnte beide ernsthaft, doch nur ja dem Doktor gut zu folgen, „damit wir doch wenigstens zu Ostern wieder auf’m Damm sind“. Jetzt legte sie die Briefe vor ihren Herrn hin und sagte geringschätzig. „Nichts Ordentliches – bloß lauter Drucksachen, Zeitungen und so ’was. Je, was ich man noch sagen wollt’ – wie is es denn mit die Tauben? Hat Herr Regierungsrat vielleicht heute Appetit darauf? Die gnädige Frau ißt ja überhaupt nichts mehr, da müssen wir wohl ’mal aus dem Klub ganz ’was Apartes holen lassen, Mocturtle oder Ragout fin, oder irgend so’n Kram. Was meint gnä’ Frau?“

Franziska erteilte hastig ihre Befehle; sie hatte zwischen den braunen Marken der Drucksachen eine grüne erblickt, einen Stadtpostbrief – und ihr Herz schlug überlaut, als sie die Hand danach ausstreckte.

Rieke ging mit einem verwunderten Blick auf die Gnädige, die ihr heut’ so konfusen Bescheid gegeben – und Franziska trat mit dem Brief ans Fenster, wie um besser sehen zu können.

Doktor Sonnenthal schrieb kurz und sachlich, versuchte seine zaghafte Klientin mit wenigen Worten zu beruhigen und schloß mit einer Empfehlung an den ihm unbekannten Gemahl der Dame.

Franzel las die kurzen Zeilen wieder und wieder, ehe sie in ihrer übergroßen Erregung deren einfachen Sinn nur begriff. Ja, so ein Rechtsanwalt, der sieht die Dinge ganz anders an! Weil er Tag für Tag dort im Gerichtssaal aus und eingeht, meint er, das müsse so sein, und andern Leuten sei’s ebenso gleichgültig wie ihm! Und hätte er tausend Worte geredet - er hätte ihr doch die Angst nicht ausreden können!

Das Papier knitterte in Franzels zitternden Händen, Ernst hörte es deutlich, er hörte auch die kurzen hastigen Atemzüge seiner Frau. Eine große Unruhe bemächtigte sich seiner. Was hatte Franziska dort, was verheimlichte sie vor ihm? Er wollte sich aufrichten. und nach ihr umsehen, fühlte sich indes zu schwach und rief nur leise ihren Namen.

Franzel kam sofort, hatte aber doch Zeit gefunden, den Brief in die Tasche zu stecken. Ihr weißes Gesicht leuchtete förmlich in der beginnenden Dämmerung, der kranke Mann sah sie an und suchte in peinigender Ungeduld das Geheimnis dieses blassen stummen Frauenantlitzes zu ergründen.

„Von wem ist der Brief, Franziska?“ fragte er streng. Er nannte sie selten so – sie schrak zusammen, aber sie war auf die Frage vorbereitet – sie war das Schweigen, das Heucheln, das Lügen ja schon so schrecklich gewohnt worden in letzter Zeit. „Von der Rätin Lorenz,“ erwiderte sie leise.

Und der Mann dort im Bett wußte, daß es eine Lüge sei – die erste ihm gegenüber, die über Franziskas Lippen kam; ein Grauen wie vor drohendem Unheil schlich sich in sein stolzes Herz, ein Zweifel an seinem Weibe erwachte darin; ein erstes leises Mißtrauen hob gleichsam warnend, lauschend, ahnungsvoll den Finger auf. Aber er beherrschte sich und fragte scheinbar ruhig weiter: „Was schreibt sie denn? Laß doch hören, wie es der lieben alten Seele geht?“

Das arme junge Weib empfand mit all seinen Sinnen, was in des Mannes Seele vorging, Auge, Ohr und Gefühl verschärften sich förmlich in dieser Minute zu doppelter Thätigkeit – indes die Lippen klanglos stammelten: „Sie läßt Dich grüßen, sie … es geht ihr gut“ … und da jeder Fehler durch die Uebung sein eigener Lehrmeister wird, fügte sie hastig hinzu: „Es handelt sich um eine kleine Ueberraschung, Ernst … wenn Du gesund sein wirst …“

Dann aber war’s vorbei mit Franzels Verstellungskünsten, sie kniete am Kopfende von Ernsts Bett nieder und weinte bitterlich. Und in des Mannes Herzen schwieg der Zweifel, es schwieg das häßliche Mißtrauen – ein tiefes heiliges Erbarmen mit diesem kindlichen irregehenden Weibe überwog alles andere Denken. Er legte die Hand auf ihr dunkles Haar und sprach mild und ernst wie ein Priester: „Wenn Du gesund sein wirst, Franziska – gesund von all diesem Leid!“

Die Abenddämmerung breitete immer tiefere Schatten über das stille Krankenzimmer – kein Laut störte das große Schweigen.

So fand sie die graue Schwester, als sie eine halbe Stunde später kam; sie hob Franziska auf und brachte sie zu Bett. Die junge Frau ließ alles willenlos mit sich geschehen, sie fieberte und sprach in wirren Phantasien. Die Schwester saß die lange Nacht hindurch sorgenvoll an ihrem Bett und lauschte auf die hastigen Worte, die sich bald an den Gatten, bald an einen Fremden richteten – an einen anderen, den sie mit flehenden Worten und Gebärden beschwor, ihr zu helfen, sie nicht unglücklich zu machen. Schwester Valerie war nur einmal aufgestanden, um die Thür zu schließen, die nach Ernsts Zimmer führte, da sah sie auch ihren andern Patienten schlaflos mit weitoffenen, finsterblickenden Augen liegen – kehrte seufzend an Franzels Lager zurück, betete ihren Rosenkranz und flocht die Namen ihrer beiden Kranken in ihr Gebet ein. Und allmählich, wie die Nacht vorschritt, wurde Franzel ruhiger und schlief endlich ein.

Am nächsten Morgen ging es ihr um vieles besser, sie stand auf, und als Doktor Böhmer kam, fragte sie ihn geradezu, ob sie bald wieder ausgehen dürfte. Er lachte sie ohne weiteres aus und tippte in seiner ungenierten Art mit dem Finger an ihre Stirn. „Bei dem Ostwinde, Seelchen? Ja, was bilden Sie sich denn eigentlich ein?“ Damit glaubte er die Sache abgethan und ging zur Tagesordnung über. Franziska hörte ihm schweigend zu und starrte auf ihren Wandkalender, der zeigte das Datum des vierten März. Am sechsten, also übermorgen, sollte sie vor Gericht. Sie wußte, daß ein einziges Machtwort des Doktor Böhmer sie für diesmal davon befreien könne, damit aber war die Sache nur aufgeschoben, nicht aufgehoben – und sie mußte das alles jetzt bald von der Seele haben, sonst ging sie daran zu Grunde! So schwieg sie und sann, wie sie ihr Vorhaben ausführen könne; und als der gefürchtete Tag anbrach, kam ihr der Zufall selber zu Hilfe.

Ernst hatte in der Nacht rasende Kopfschmerzen, und die Schwester gab ihm, nach Doktor Böhmers Verordnung, Morphiumtropfen, und da diese nicht halfen, nach einigen Stunden noch eine zweite Dosis. Darauf ließen die Schmerzen nach und der Kranke verfiel in einen tiefen ruhigen Schlaf, so daß Schwester Valerie frühmorgens ruhig ihren Posten verlassen konnte.

Als Franziska erwachte, war es bereits neun Uhr. Noch anderthalb Stunden! Sie schlich auf den Zehenspitzen an Ernsts Bett, gottlob! er schlief – so würde sie vielleicht unbemerkt fort kommen! In fieberhafter Hast machte sie Toilette – ein schlichtes schwarzes Kleid, das die fahle Blässe ihres Gesichtes noch mehr hervorhob, Hut und Pelzmantel lagen schon bereit, Franzel streckte gerade die Hand danach aus – da regte sich etwas im Nebenzimmer – Ernst rief leise ihren Namen. In der nächsten Sekunde stand sie neben ihm; müde, halbgeschlossen blickten seine Augen zu ihr hin – plötzlich weckte ihr schwarzes Straßenkleid seine Aufmerksamkeit, seinen Argwohn, mühsam sich aufrichtend, fragte er, sie mit großen Augen anschauend: „Franziska, wo willst Du hin?“

Sie stand neben seinem Bett, an allen Gliedern zitternd, bemühte sich, eine Ausrede zu finden, und drückte den Kranken sanft in die Kissen zurück. Er wehrte sich mit allen Kräften, umklammerte ihr Handgelenk und rief: „Du darfst nicht ausgehen, Franziska, Du sollst … der Doktor …“ er hielt inne, griff mit beiden Händen nach den Schläfen und stöhnte: „Mein Kopf, mein Kopf! Gieb mir die Tropfen!“

Während Franziska eilig nach den schmerzstillenden Tropfen suchte, die die Schwester vorsorglich außer Greifweite des Kranken gestellt, dämmerte in dem fiebernden Hirn des Mannes eine furchtbare Erkenntnis! Dies war einer von den heimlichen Wegen, wovon Aurelie gesprochen, sein Weib – Gott im Himmel! sein Weib betrog ihn, den Kranken. Der Brief fiel ihm ein und all diese Heimlichthuerei, dies Verbergenwollen – er hörte den klugen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_050.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)