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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

trotzdem die Erde lechzte, ihn zu empfangen, und die Luft glühte. Gleich geschmolzenem Blei lag das Wasser, und die Eschen wiegten sich und bogen sich wie im tollen Reigen. Eine verirrte Schwalbe umkreiste unaufhörlich gedankenschnell die beiden Menschen, die hier eng umfaßt standen, es war, als wollte sie bei ihnen Schutz suchen.

„Können Sie gehen, Gabriele?“ fragte der Doktor halblaut während einer kurzen Pause und bog sich schützend vor, um einem neuen Anprall des Sturmes stand zu halten. Allein er bekam keine Antwort. Sie hatte ihr Köpfchen in seinen Armen verborgen, er fühlte, wie ihr ganzer Körper zuckte und bebte und wie ihre Hände sich an ihn klammerten, sie war in der That sinnlos vor Angst, ihr Herz, gegen das er seine Hand stützte, schlug rasch und unregelmäßig, wie im heftigsten Fieber.

Wie lange sie so noch standen, er wußte es nicht. Als der Regen in schweren Tropfen zu fallen begann, hob er seinen Schützling auf und trug ihn in seinen Armen nach der Villa.

Es war kein kurzer Weg, und doch dünkte er ihm so nahe; er hatte auch seine Last nicht als schwer empfunden und doch war er atemlos, als er sein Ziel erreicht hatte und taumelnd seine Bürde in der Veranda niedersetzte.

Gabriele lag jetzt halb besinnungslos in einem weiten Rohrsessel, das Haupt zurückgesunken, die Augen geschlossen – welch lange dunkle Wimpern sie hatte! Cornelius Röder sah von ihr fort und senkte den Kopf. Es war ihm seltsam zu Mut, seltsam wirr und beklommen.

Als Mamsellchen nach einer Minute in die Veranda trat, befahl ihr Herr, sie solle sich der jungen Frau annehmen. Er selbst ging mit langsamen, zögernden Schritten, wie ein Mensch, der nicht weiß, was er will, nach seinem Zimmer. Dort stand er eine Zeit lang gleich einem Träumenden still; er schien zu lauschen, aber nicht auf das Unwetter draußen; er horchte in sein eigenes Innere, aber er verstand die Stimmen nicht, die dort sprachen. Von diesem Tag an vergaß Doktor Cornelius Röder es nie mehr, nicht für eine einzige halbe Stunde, daß er Gabriele Hartmann unter seinem Dach beherbergte.




7.

Es schien überhaupt, als habe sich mit dem Austoben des Unwetters eine entscheidende Wandlung vollzogen. Auch die junge Frau schien verändert seitdem. Sie hatte in der Nacht, die dem Gewitter folgte, zum erstenmal seit langer Zeit fest und traumlos geschlafen, und am nächsten Morgen wagte sie sich ganz in der Stille über die Grenze des Gartens hinaus in den Wald. Die köstlich reine gekühlte Luft umwehte sie so erfrischend, daß sie mit leicht geröteten Wangen zum Mittagessen heimkam, lebhafter sprach als sonst und einigen Appetit entwickelte. Nach weiteren drei Tagen begann sie früher aufzustehen und die Siesta auf ihrem Zimmer um eine gute halbe Stunde zu verkürzen, und eines Mittags fand Mamsellchen zu ihrem unermeßlichen Erstaunen Frau Hartmann im Geflügelhof vor, wo sie mit einem ganz vergnügten Gesichtsausdruck die jungen Hühner fütterte.

„Sie fängt wahrhaftig an, den Kopf zu heben!“ bemerkte Mamsellchen zu Ewert, ihrem Vertrauten, und dieser nickte triumphierend. „Sehen Sie wohl, Mamsellchen, sehen Sie! Was sagt’ ich? Nun passen Sie bloß auf, wie sie jetzt aufblüht!“

Die Angeredete paßte denn auch wirklich scharf auf und fand Ewerts Weissagung bestätigt. Die junge Frau begann in der That aufzublühen, wenn auch sehr langsam und allmählich. Sie genoß keine Vogelportionen mehr, sondern aß und trank wie ein normaler Mensch; sie träumte nicht mehr stundenlang in der Hängematte müßig vor sich hin, sondern förderte ihre Handarbeit eifrig, schrieb Briefe und eines Tages, als der Doktor zufällig in seine Bibliothek trat, um sich ein Buch zu holen, erhob sie sich mit verlegenem Lächeln von dem bequemen Sessel, der dort für die Lektüre bereit stand.

„Verzeihen Sie, daß ich hier bin, aber Sie hatten gestattet –“

„Ich hatte gebeten,“ fiel er lebhaft ein, „und ich habe nichts zu verzeihen, ich habe mich nur zu freuen, daß Sie meine Bitte erfüllt haben! Darf man sehen? Ah! Brandes, Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts! Nun, was sagen Sie dazu?“

„Ein gutes Buch. Ohne jede Spur von Lebhaftigkeit und doch belehrend, sachgemäß und ohne Vorurteil – das findet man nicht oft.“

Röder nickte bestätigend, aber er hatte gar nicht recht gehört, was die junge Frau zuletzt sprach. Wie belebt ihr Gesicht erschien wie wechselnd im Ausdruck! Und welch tiefe blaugraue Augen sie hatte! Oder waren sie nicht blaugrau? Sie erschienen ihm jetzt so dunkel! Kam das nur daher, weil die blassen Wangen nun rosig angehaucht waren?

Es entstand eine Pause. Die junge Frau stand mit glänzenden Augen da und wartete auf die Fortsetzung des Gesprächs. Der Doktor war ganz in Gedanken eingesponnen, er raffte sich nicht ohne Mühe auf.

„Lieben Sie schon lange so ernste Lektüre?“ fragte er zuletzt, um doch etwas zu sagen.

„Gewiß! Schon in meinen frühen Mädchenjahren sorgte mein Vater stets für gute Bücher. Sie haben Papa gar nicht gekannt, nicht wahr?“

„Ich kann eigentlich nur sagen, daß ich ihn gesehen habe – kennen darf man es doch nicht nennen, wenn man mit jemand drei-, viermal in Gegenwart so und so vieler anderer Personen zusammentrifft und kein tiefergehendes Gespräch miteinander führt. Margot – ich meine Ihre Mutter – lernte Konsul Schütze in Hamburg kennen, wo sie bei guten Freunden zu Besuch war. Er stellte sich dann meinen Eltern persönlich vor und warb um sie, als ich noch auf Reisen war. Bei meiner Rückkehr stand die Hochzeit nahe bevor, und damals sah ich also den Verlobten meiner Pflegeschwester. Er machte mir äußerlich und in seinem Wesen einen sehr guten Eindruck, mehr vermag ich beim besten Willen nicht über ihn zu sagen.“

„Sein Aeußeres und sein gesellschaftliches Benehmen war das Nebensächlichste an ihm!“ Gabrielens Blick und Stimme belebten sich mehr und mehr. „Einen hübschen Mann mit guten Manieren, den findet man hundertmal, aber mein Vater war zugleich ein ganz seltener Mensch, vielseitig begabt, zuverlässig und treu wie Gold, mit einem wahren Kinderherzen. Ich darf das sagen, ohne im mindesten parteiisch zu sein. Obgleich ich den Jahren nach noch jung bin, so hat mich doch mein Be– – mein Leben, meine ich“ – die Sprecherin verwirrte sich ein wenig – „mit so vielen verschieden gearteten Leuten zusammengeführt, daß ich recht wohl Vergleiche anzustellen imstande bin. Ich war erst zwölf Jahre alt, als Papa starb, aber wie deutlich steht sein ganzes Bild vor mir, wie gut erinnere ich mich an tausend Scenen, die sich in meinem elterlichen Hause abspielten, deren Mittelpunkt er war, und ich kann mir nicht denken, daß irgend ein Mädchen in so kindlichem Alter, wie ich damals eines war, ihren Vater tiefer betrauerte, als ich es that!“

In der Tiefe der graublauen Augen erwachte ein leidenschaftlicher Ausdruck, der das ganze Antlitz mit einem Schlag verwandelte. Cornelius Röder hatte recht gehabt, als er an jenem ersten Morgen gedacht, die junge Frau zeige ihm nicht ihr wahres Gesicht. War das jetzige das echte?

„Konsul Schütze muß ein zärtlicher Gatte und Vater gewesen sein!“ bemerkte er sinnend. „Ich erinnere mich, daß er damals Margot, seine Braut, kaum für eine halbe Stunde von seiner Seite ließ und sie mit Liebesbeweisen und Aufmerksamkeiten aller Art förmlich überschüttete!“

„Ja, das sieht ihm ähnlich! So ist er auch in späteren Jahren geblieben. Er hat uns namenlos verwöhnt, meine Mutter und mich. Sie hat sich nach seinem Tode ungemein verändert, sie brach ganz zusammen und fand keinen Halt mehr ohne ihn, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Auch mir erfüllte er jede Bitte. ‚Du sollst gern an Deine Kinderzeit zurückdenken,‘ pflegte er zu sagen, ‚sie soll sonnig und glücklich für Dich sein!‘ Und wahrhaftig, das war sie! Es war ein buntes farbenreiches heiß pulsierendes Leben in unserem Hause auf Batavia. Die Vertreter aller Nationen gingen bei uns aus und ein, fremdartige Menschen und seltsame Trachten erschienen täglich vor meinen Augen, ich hörte um mich herum fast alle Sprachen, die es giebt, und wurde doch davor bewahrt, international verbildet und verpfuscht zu werden, weil mein Vater ein so echter Deutscher, so unsagbar stolz auf sein Volk war. Oft noch seh’ ich im Traum unser stolzes Haus auf Batavia mit seinen luftigen Veranden und weitläufigen Nebengebäuden, seinen exotischen Pflanzen und luxuriösen Wohnräumen – und mitten darin mich, umschmeichelt und geliebkost von jedermann, bedient und auf Händen getragen wie ein Fürstenkind, eine glänzende Zukunft vor Augen. Dann“ – es senkte sich wie ein trüber Schleier über Gabrielens Gesicht, die alte hoffnungslose Müdigkeit kam wieder.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_054.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)