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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

versehenen Wandelbahn begrenzt. Wir werfen einen Blick in dieselbe und sehen etwa fünfzig Kurgäste, der Kleidung nach offenbar aus allen Ständen: Barfüßig mit schwingenden Armen und schweigendem Munde, umkreisen die meisten von ihnen im Geschwindschritt die Holzsäulen der Wandelbahn offenbar an nichts anderes denkend als an die Zahl ihrer Wandelgänge.

Wir gehen weiter. Durch eine Bodensenkung fließt ein klarer Bach; an seinen Ufern ist er von Neubauten gesäumt, unter ihnen das stattliche „Sebastianeum“. Dasselbe ist ein modernes, ausschließlich den Kurzwecken dienendes Gebäude, in welchem geistliche und arme Patienten unentgeltliche Verpflegung finden. Hier ist auch das Ordinationszimmer, wo der Prälat täglich seine Sprechstunde abhält. Er hält diese Sprechstunde aber nicht allein, sondern sitzt an seinem Tische umgeben von einer Art Stab aus jüngeren Geistlichen und Aerzten bestehend. Während er selbst die in strenger Reihenfolge vor ihn hintretenden Patienten um ihre Krankheitsgeschichte befragt und mit seinen lebhaften Augen das Krankheitsbild überfliegt, welches die Person des einzelnen Patienten ihm bietet, schreibt einer seiner geistlichen Adjutanten auf seinen Wink die Behändlungsmethode nieder. Sie wird mittels besonderer Zeichen in ein kleines Buch eingetragen, welches jeder Patient vor der ersten Consultation erhält. Die Vollstreckung der Kur nach diesen Anweisungen liegt dann teils in den Händen von Badewärtern, teils ist sie Aufgabe des Patienten selbst.

Wir wandern am Kurhause vorbei. Hinter demselben steigt die Landschaft zu einem bewaldeten Höhenzuge auf. Hier, am Westende des Ortes, erhebt sich aus jungen Anlägen der schöne Bau des Kinderasyls, das ebenfalls unter Kneipps Leitung steht.[1] Während wir vorbeigehen, sitzen auf der Freitreppe vor dem Asyl etliche Kinder mit blassen kranken Gesichtern; eine der dienenden Ordensschwestern steht bei ihnen.

Es wird indessen Zeit, daß wir uns nach der großen Halle verfügen, wo Pfarrer Kneipp seine tägliche Ansprache an die Kurgäste zu halten pflegt. Wir wandern zurück über den Bach. Jetzt fällt uns eine Warnungstafel auf mit der Inschrift: „Wassertreten ist hier verboten“. Es scheint demnach, daß vor Erlaß dieses Verbots einzelne Kurgäste, von lobenswürdigem Eifer beseelt, im Bache selbst spazieren gegangen sind. Etwas anderes kann man ja unter „Wassertreten“ hier nicht wohl verstehen.

Eine Tasse Kaffee, die wir unterwegs in einem Kaffeehause zu genießen versuchen, versetzt uns in eine höchst melancholische Stimmung. Denn da Kneipp ein entschiedener Gegner des wirklichen Kaffees ist, setzt man uns ein Getränk vor, welches niemals eine Kaffeebohne gesehen hat. Das ist der berühmte „Kneipp-Käffee“.

In der Nähe des Klosters liegt die große Wandelbahn, wo der Pfarrherr jeden Nachmittag seine Ansprache hält. Schon auf dem Wege dahin wird uns klar, daß wir uns dem wichtigsten Ereignis nähern, welches ein Tag in Wörishofen bietet. Denn von allen Seiten her strömen in Scharen die Kurgäste, arm und reich, krank und halbkrank. Hier sieht man aristokratische Erscheinungen in kokett zusammengestellten Kurtoiletten; dazwischen Kleinbürger und auch manchen armen Menschen, der vielleicht seine letzten Pfennige verausgabt hat, um die Fahrt nach Wörishofen zu bezahlen. Und man hört hier neben deutschen italienische und russische, englische und böhmische Laute. Man sieht aber auch vieles, fast alles, was das menschliche Elend an körperlichem Siechtum bietet, und was oft genug mit Entsetzen erregender Deutlichkeit aus gelben, fahlen, gedunsenen und sonst entstellten Gesichtern, aus gelähmten, schwerfällig nachgeschleppten Gliedern spricht. Besonders stark ist die Anzahl der Gelähmten, die mühsam ihren Weg hierher suchen. Sehr zahlreich sind aber auch die von bösartigen Hautkrankheiten Heimgesuchten; unter ihnen einzelne, deren ganzes Gesicht von Tüchern mitleidig verhüllt ist. Und der Ausdruck in diesen Gesichtern – von freudigster Zuversicht abgestuft bis zur hoffnungslosen Verzweiflung! In unserer Nachbarschaft sahen wir drei, die unser tiefstes Mitgefühl erregten. Drei junge Männer, alle mit den Anzeichen schwersten körperlichen Leidens behaftet, in ärmlicher Kleidung. Der mittlere, mit einer Soldatenmütze, war hager und totenblaß; aber er ging noch aufrecht; und an jedem seiner Arme hing ihm ein Kamerad, den er noch liebevoll unterstützte. Ein Bild des Jammers und doch wieder so reich an Barmherzigkeit!

Die mächttge Halle hat sich gefüllt. Es ist vier Uhr vorüber lautes Händeklatschen und Beifallrufen verkündet die Ankunft des Pfarrers. Und nun steht der Wasserkurapostel auf seiner Rednerbühne: trotz seiner siebzig Jahre eine kräftige untersetzte Gestalt, mit lebhaften Gebärden und ausdrucksvollen Augen unter buschigen Brauen. Pfarrer Kneipp ist ein Naturredner. Er spricht einen schwäbisch-bayerischen Dialekt; aber doch so deutlich, daß, wer überhaupt der deutschen Sprache mächtig ist, jedes seiner Worte versteht. Kunstlos fügt er seine Sätze; aber er spricht mit Humor und wie ein Mann sprechen kann, der von der Wahrheit und dem Werte dessen, was er sagt, im Innersten durchdrungen ist. Er beginnt, indem er irgend ein Krankheitsbild vor den Augen seiner Zuhörer entrollt und an dieses Krankheitsbild dann seine Lehre von den Segnungen seiner Wasserkur anknüpft. Seine Vorträge gehen nicht über das Begriffsvermögen der einfachsten Menschen hinaus; jeder muß ihn verstehen. Ab und zu apostrophiert er auch in höchst ungenierter Weise ein Mitglied des Zuhörerkreises, mit dem Finger auf dasselbe deutend.

Wir fühlen uns seltsam angemutet von diesem Vortrage. So laienhaft unsere medizinischen Kenntnisse auch sind, ist uns doch, als wären wir Kinder des 19. Jahrhunderts plötzlich zurückversetzt in eine Zeit, in welcher etwa Hippokrates oder Galenus vor einer gläubigen und bewundernden Volksmenge sprach. Und dann denken wir wieder an die Wunderdoktoren des Mittelalters und an die derben Scherze, mit welchen einst Abraham a Santa Clara seine Zuhörerschaft entzückte. Aber zum Lachen ist uns nicht; dafür ist viel zu viel menschliches Elend, zu viel gläubiges Vertrauen um uns her.

Zum Schlusse bietet heute der Redner seinem Publikum noch etwas Besondres. Er hat seinen Vortrag geendet; da stellt sich ihm eine ehemalige Patientin vor, eine fein gekleidete fremde Dame von bescheidenem Wesen. Vor vier Jahren wäre sie nach Wörishofen gekommen, mühsam in einer eisernen Maschine gehend. Jahrelang hätte sie kaum gehen können; alles mögliche hätte sie versucht; in Wörishofen aber war sie gesundet. Mit leiser Stimme erzählt sie das dem Pfarrer, der es laut und fröhlich der Versammlung verdolmetscht.

Seltsam, wie da die Augen der armen Kranken aufleuchten!

Der Prälat geht, gefolgt von seinen eifrigsten Anhängern und Verehrerinnen; die Versammlung löst sich auf. Wir atmen wieder freier, aus dem Gedräng so vieler kranker Menschen uns in die gesunde herbstliche Natur hinausarbeitend. In Scharen pilgert die Zuhörerschaft heimwärts durch die Ortsgassen. Nach einem solchen Vortrage sind sie alle von neuer Lebenshoffnung erfüllt. Die meisten dieser Kranken verehren den Prälaten, wie nur ein heilspendender Patriarch des grauesten Altertums verehrt werden konnte. Aber selbst wir, die wir als Gesunde gekommen sind mit der ganzen Zweifelsucht und kühlen Kritik des Jahrhunderts, können doch ein gewisses wärmeres Interesse nicht von uns abwehren: das Interesse für einen Mann, den ein felsenfester Glaube an seine Mission und an seine vermeintlichen Heilswahrheiten trägt, der aus schlichtesten Verhältnissen heraus zu einer Berühmtheit gekommen ist und in seltener Uneigennützigkeit alles, was ihm zufließt, den Kranken und Elenden zuwendet. Es war nicht unsre Aufgabe, in eine Kritik des Kneippschen Kurverfahrens einzugehen, das unter Umständen sehr verhängnisvoll wirken kann und jedenfalls in seiner Anwendung auf alle möglichen Leiden einer wissenschaftlicheren Kontrolle bedürfte, als des Pfarrers ungenügende medizinische Bildung gestattet; wir wollten bloß den Ort und den Mann schildern und den Zauber, den er auf seine Kranken ausübt.

Während wir über den Einfluß fester Ueberzeugtheit auf fremde Gemüter nachdenken, sinkt die Sonne hinter den schwäbischen Wäldern; die Nebel sind zerrissen und lassen im fernen Süden, gleich einem funkelnden Feenmärchen die Hochgebirgskette mit ihren Schneefeldern zum Vorschein kommen. Einen Augenblick nur – dann, während wir im Postwägelchen wieder der Bahnstation entgegenrasseln, verschwindet das ganze Wörishofen in den Schleiern der Herbstnacht.



  1. Ganz besonders gegen dieses Asyl und die darin geübte Wundbehandlung mit Wasser und ohne antiseptische Verbände werden von wissenschaftlicher Seite neuerdings sehr schwere Bedenken erhoben. D. Red.     




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_062.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2020)