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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

wieder einschlafen, verstanden? Ich muß jetzt fort, denke in höchstens zwei Stunden wieder hier zu sein.“

„Je, Herr,“ sagte Rieke, wie von einem guten Einfall erhellt, „Fräulein von Hagen is ja da, dem Herrn seine Cousine. Kann die das Reden nicht besorgen?“

„Meinetwegen,“ brummte der Doktor. „Gern sehe ich die … hm, die Dame zwar nicht im Krankenzimmer, aber in der Not …“ – er konnte den unhöflichen Satz nicht vollenden, denn Fräulein von Hagen hatte, durch das Sprechen aufmerksam gemacht, die Wohnstubenthür geöffnet. Als sie den Doktor erblickte, kam sie sogleich auf ihn zu. „Kann ich Ernst sehen, Herr Doktor?“

„Ja, ja,“ nickte er, nicht gerade erbaut, „gehen Sie hinein und reden Sie mit ihm! Je mehr, je besser. Er hat aus Versehen ein bißchen zuviel Schlaftropfen genommen – da wir ihn zur Not wieder so weit haben.“ Er wandte sich an Rieke und sagte leise: „Und Sie schaffen mir die Frau zur Stelle, und hernach gleich ins Bett mit ihr. Die müssen wir jetzt ’mal ganz energisch in die Kur nehmen. – Das ist ja ein ganz störriges Volk, einer wie der andere!“ brummte er noch im Hinausgehen.

So betrat Aurelie von Hagen zum drittenmal das Krankenzimmer.

Ernst beachtete sie kaum, er lag still und apathisch da – sie plauderte vom Wetter, vom Theater, von Franzels herrlichen Hyazinthen drüben im Wohnzimmer – er schien es kaum zu hören.

„Daß er mir nur nicht einschläft,“ dachte Aurelie in aufrichtiger Besorgnis und grübelte, wie sie sein Interesse fesseln könne – und auch sie verfiel auf dasselbe Thema wie vorhin Doktor Böhmer – freilich aus ganz anderen Motiven.

„Sehr unrecht von Franziska, Dich allein zu lassen, Ernst,“ begann sie tadelnd, und als er keine Antwort gab, fuhr sie mit erhöhtem Eifer fort: „Ich sagte Dir neulich schon, Du müßtest sie etwas strenger nehmen, besser auf sie achten. Aber Du wolltest ja nicht hören!“

Ernst hob die Augen und richtete einen mahnenden Blick auf seine Cousine.

„Redest Du nur so ins Blaue hinein, oder weißt Du etwas Positives über … über …“ – er wollte „meine Frau“ sagen, verbesserte sich aber und sagte kurz „Franziska?“

Aurelie blickte betreten vor sich nieder; auf eine klare Auseinandersetzung war sie nicht vorbereitet, sie hatte nur andeuten, warnen wollen.

„Sprich!“ wiederholte er hart.

Nun denn! Sie zuckte mit den Achseln, wenn Ernst so vorgehen wollte, so konnte sie ja reden. Mochte dann kommen, was da wollte – ihre Schuld war’s nicht.

So begann das kluge redegewandte Weib dieses ganze, feinerklügelte Gewebe von Franziskas Leichtsinn und Untreue vor Ernsts Augen auszubreiten. Bloße Vermutungen wurden als Thatsachen hingestellt, Franzels eigenes angsterfülltes Geständnis geheimer Beziehungen zwischen ihr und Doktor Sonnenthal kam als schwerwiegender Schuldbeweis hinzu. Doktor Sonnenthals Brief, Franziskas wiederholte Ausgänge trotz des ärztlichen Verbotes, ihre zweimaligen Besuche bei dem Rechtsanwalt – dies alles, was der Wahrheit so vollkommen entsprach, war so sein mit allerlei versteckten häßlichen Andeutungen verwoben, daß es eines unbefangeneren Urteils als das des[WS 1] schwerbeleidigten Ehemanns, eines klarer denkenden Verstandes als des eines Kranken bedurft hätte, um die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden.

Mit aller Denkkraft seines leidenden Gehirns suchte Ernst diesen klugen Auseinandersetzungen zu folgen. Er unterbrach seine Cousine mit keinem Wort, mit keiner Frage, und als sie geendet, schwieg er lange, lange. Sein Blick war nach innen gekehrt, all sein Denken suchte angestrengt in der eigenen Erinnerung nach Thatsachen, die seines Weibes Unschuld beweisen sollten. Wäre er der starke gesunde Mann gewesen, nimmer wäre es Aurelie gelungen, Franziska bei ihm zu verdächtigen. Sein scharfer Verstand hätte das ganze heuchlerische Lügengewebe durchschaut, sein gerechter Zorn hätte das falsche Weib für immer aus seinem Hause getrieben, aber so lag all seine Manneskraft, die körperliche wie die geistige, in den lähmenden Banden der Krankheit, und wie er auch sann und sein schmerzendes Hirn zermarterte – er fand nichts, nichts, was sein Weib in dieser Stunde freisprach.

Gewiß, ihr Mädchenleben war so kurz, so klar, so ereignislos gewesen – und dennoch gab es darin eine Beziehung, die Franziska ihm verschwiegen, ein unseliges Etwas, das sich aus der Vergangenheit in die Gegenwärt herüberschlich.

Gewiß, dieses erste Jahr ihrer Ehe war so ruhig, so friedvoll glücklich verlaufen – aber weshalb? Weil die Stunde der Versuchung noch nicht gekommen war. Jetzt ist sie da – und Franzel, sein reines herrliches kindliches Weib, ist ihr unterlegen! Jedes Wort, das der alte Hausarzt gesprochen, taucht wieder in Ernsts Erinnern auf: von Franziskas Leiden, das weit mehr seelischer als körperlicher Natur sei, von geheimem Weh, das sie quäle. Sie hat gekämpft, hat gelitten an seiner Seite – natürlich, ein reines stolzes Weib erliegt nicht sogleich der Versuchung – und dann hat sie doch den ersten Schritt ins Verderben gethan.

Den ersten? Und wer bürgt ihm dafür, daß es bei diesem ersten geblieben?

Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn, und wieder hebt der Kranke mühsam das Haupt und ringt mit dem unsichtbaren Feinde um den Glauben an seines Weibes Treue und Reinheit. Und wie er noch kämpft, wie er sich Herz und Hirn zermartert, sieht er sie vor sich, wie sie Tag und Nacht sorgend, pflegend an seinem Lager gesessen – sie, das junge blühende Geschöpf, und er, der die Höhe des Lebens schon fast überschritten. Er sieht die heimliche Unruhe in ihren schönen Augen, die wechselnde Röte und Blässe ihrer Wangen, sieht – Gott im Himmel, wie konnte er das vergessen! – er sieht sie vor sich in jener Stunde, wo sie den Brief erhielt, den sie vor ihm verbarg, wo sie ihn belog, wo sie wie eine Schuldbewußte vor seinem Bett niedergesunken war in heißen Thränen ……

Da giebt er den Kampf auf, den nutzlosen – über seines Weibes Ehre und seiner eigenen schlagen die schmutzigen grausamen Wogen der Verleumdung zusammen. Still liegt er da, nur seine Hand ballt sich wie in Zorn oder Schmerz – und das Weib an seiner Seite schaut auf ihn nieder und weiß, daß sie ein Menschenglück zunichte gemacht.

„So thatest Du mir,“ flüstert sie, die Hand aufs Herz pressend – dann steht sie auf und tritt ans Fenster.

Was ging sie jetzt noch der Kranke an? Mochte er wachen oder schlafen, leben oder sterben – ihr war’s einerlei! Bis zu dieser Stunde hatte sie noch gehofft – sie wußte selbst kaum, auf was! Nun hat ihre Rache alles zunichte gemacht, sie fühlt, daß alles vorbei ist, daß Ernst ihr nie vergeben wird! Ihr Spiel ist ausgespielt – in diesem Hause hat sie nichts mehr zu schaffen.

Lange stand sie und starrte gedankenschwer auf den Fluß jenseit des winterlich kahlen Gartens, der in träger, brauner Flut dahinzog – so freudlos, so öde wie ihr eigenes Leben, stand und schaute, die Stirn an die kalte Scheibe gepreßt, bis die Augen ihr brannten, bis der Klang der Wohnungsglocke und der Laut einer Stimme sie aufschreckte.

Auch der Kranke, der reglos dagelegen, hatte diesen Laut gehört und erkannt, er machte eine Bewegung – sofort war Aurelie neben seinem Bett.

„Franziska ist da – soll ich sie rufen?“ fragte sie atemlos.

Ernst schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht,“ sagte er schwach.

In ihre Hand gegeben – das ist’s ja, was sie gewollt! Aug’ in Aug’ mit ihrer Feindin will sie sie zwingen, aus ihrer Hand den bittern Kelch der Demütigung zu leeren.

Sie ging hinaus.

Franziska war heimgekommen.

Endlos lange hatte sie warten müssen in einem schmalen, überheizten, dumpfigen Korridor des riesigen Gerichtsgebäudes, wo die Leute ruhelos kamen und gingen, wo die Rechtsanwälte und Gerichtsschreiber mit ihren schweren Aktenbündeln hin und herliefen; wo unablässig an all den vielen Thüren des langen Korridors die Namen der Vorgeladenen aufgerufen wurden; wo alt und jung mit feierlich ernsten Gesichtern umherstand. Die Viertelstunden waren ihr zur Ewigkeit geworden; dies ruhelose Kommen und Gehen, das monotone Raunen und Flüstern rings um sie her verwirrte sie und verursachte ihr fast körperliche Pein. Nur der Zuspruch der treuen Freundin und die äußerste Willenskraft hatten sie aufrecht gehalten.

Die „Sache Wodrich“ kam an die Reihe.

Franziska fuhr zusammen, als der Name laut an ihr Ohr klang. Die Pein des Wartens hatte ein Ende – zitternd, totenblaß betrat sie den Gerichtssaal.

Dann aber war alles überraschend schnell gegangen. Der Kläger hatte zwei Zeugen beigebracht, junge Verkäuferinnen, die

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: des des
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_064.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)