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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Klavier vertauschte, schließlich klang sein angenehmer Bariton mit dem Sopran seiner Schwester in einigen italienischen Duetten zusammen, die am besten von den bisher gebotenen Leistungen wirkten.

Gabriele wurde lebhaft gebeten, zu singen, das würde der Glanzpunkt, die Krone des ganzen schönen Beisammenseins werden, Doktor Röder ahne wohl gab nicht, welch’ ein herrliches Talent sich unter seinem gastlichen Dach verborgen habe, es sei geradezu eine Sünde, den Anwesenden einen solchen Genuß vorzuenthalten – – es blieb alles ohne Erfolg. Sie machte nicht viele Worte, aber sie weigerte sich standhaft; sie sei nicht aufgelegt und könne heute nicht singen.

Es war nach zwei Uhr nachts, als man sich endlich voneinander trennte. Die Fremden zwar zeigten keine Spur von Ermüdung und hatten nicht übel Lust, noch einen Gang durch den nächtlichen Park zu unternehmen – es mußte entzückend sein, dort bei Sternenschein umherzuschwärmen – als aber Gabriele kurz erklärte, sie sei nicht dabei, zerfiel der ganze Plan sofort.

Man wünschte einander sehr wortreich gute Nacht und machte allerlei Pläne für den nächsten Tag. Röder stimmte höflich den verschiedenen Vorschlägen bei – an ruhiges Arbeiten war vorläufig für ihn nicht zu denken, das sah er schon.

Gabriele reichte ihm zaghaft die Hand und machte eine bedrückte Miene, als er die Hand kaum anrührte und gleich wieder losließ. Ihm lag das Herz schwer in der Brust, es that ihm weh, sie nur anzuschauen, in ihrer mädchenhaften Lieblichkeit. Er hätte sie bei der Hand nehmen, an die Schwelle seines Hauses führen und sprechen mögen: „Geh’ und komm’ nicht mehr zurück zu mir! Du nimmst den Frieden dieses stillen Hauses mit Dir, aber geh’, daß nicht Dein Anblick mich zum Thoren macht!“


10.

Mehr als vierzehn Tage waren seit jenem Abend vergangen. Es war inzwischen Hochsommer geworden. Die Gegend um Buen Retiro herum hatte sich verändert. Die wogenden Kornfelder waren niedergemäht, nur der Hafer schüttelte noch seine leichten Rispen im warmen Wind. Aber auch für ihn war es Zeit zur Ernte – schon machten sich die Schnitter mit ihren blanken Sensen über ihn her. -

In tiefem ernsten Grün prangte der Wald. Das Blumengewimmel zu Füßen der alten Bäume hatte aufgehört, die lustigen Vogelkonzerte waren verstummt. Dafür schwärmten zahllose Schmetterlinge, vom winzigen Bläuling bis zum stolzen Trauermantel, um die hohen Gräser und um die Schilfdolden, die nahe dem üppigen Moorgrund wuchsen.

Die Landleute, die Buen Retiro zu passieren hatten, verstanden die Inschrift nicht, welche die Villa trug. Hätten sie sie verstanden, sie würden sich gewundert haben. Vielleicht auch nicht. Es war nicht gesagt, ob das hübsche Haus eine „gute Zuflucht“ für einen Einzelnen bieten sollte, oder für viele. Jetzt wohnten viele Leute darin, war darum die Zuflucht eine weniger gute?

Die darin ihr Unterkommen gefunden hatten, waren sicher zufrieden; sie zeigten sehr heitere Gesichter und machten gar keine Miene, abzureisen. Es waren außer jenen ersten Drei ein paar „intime Freunde“ von Herrn Schrader gewesen, „ganz prächtige Menschen und gegenwärtig gerade beschäftigungslos, daher zum Glück disponibel“, wie er gesagt hatte – nun, die wohnten in der Stadt und kamen, nachdem Herr Theobald den Hausherrn höflich um Erlaubnis gefragt hatte, einmal um fünf Uhr heraus. Und da zeigten sie sich so entzückt von der Villa, ihrer Umgebung und ihren Insassen, priesen das Dasein dort mit so begeisterten Worten, sprachen sich so entrüstet über die Hitze und den Staub der Großstadt aus, daß Cornelius Röder ein Herz von Stein hätte haben müssen, wenn er sich dieser Mitbrüder nicht erbarmt hätte. Er lud sie also ein, in der Villa zu wohnen, und erhielt eine freudige Zusage. Einer der Herren erwies sich als ein hervorragendes Organisationstalent. Er fand, aus den vorhandenen Mitteln könne etwas gemacht werden, und er machte etwas daraus. Vorn im Garten entstand ein Lawn-Tennis-Platz, weiterhin, in der Nähe des Weihers wurde eine Mooshütte aufgerichtet. In dem an den Salon anstoßenden Raum fand ein Billard Platz, so zierlich, daß auch die Damen bequem das Queue, handhaben konnten. Ein zweiter Kahn wurde herbeigeschafft, da der vorhandene blaue sich als zu klein erwies, um die ganze Gesellschaft zu fassen. Frau Leopoldine Schrader hatte nämlich in der Stadt eine verheiratete Cousine, die gleichfalls viel freie Zeit haben mußte, denn sie kam fast täglich mit ihrem Gatten und einem niedlichen Töchterchen von fünfzehn Jahren nach Buen Retiro herüber. Die Dame war eine sehr hübsche Brünette, von etwas freiem Betragen, liebte es, sich sehr extravagant anzuziehen, Cigaretten zu rauchen und derbe Ausdrücke zu gebrauchen, nahm es auch keineswegs schwer, die anwesenden Herren, mit Ausnahme des Doktors, gelegentlich beim Taufnamen anzureden – aber, mein Himmel, wofür befand man sich denn mitten im Sommer und auf dem Lande! Wenn Man nicht einmal da ein bißchen Idyll““ spielen sollte!

Der Mann der „Cousine“ machte den Clown der Gesellschaft mit vielem Geschick. Er konnte Tierstimmen nachahmen, auf den Händen spazierengehen, Pfauenfedern auf der Nasenspitze balancieren, Feuerbrände schlucken und hundert andere Künste, die er mit großer Bereitwilligkeit zeigte. War schlechtes Wetter oder galt es, im Tagesprogramm eine Pause auszufüllen, sofort wurde Herr Trelow gerufen – sie nannten ihn fast alle „Adolfchen!“ – damit er seine Leistungen zum besten gäbe. Die kleine „Lonny“, seine Tochter, wurde von aller Welt verhätschelt, wurde „Baby“ und „Püppchen“ genannt und mit Chokolade gefüttert – sie war ein munteres schwarzäugiges Ding, hatte viel von der Mama und konnte gelegentlich mit Alfred Konsky und einem seiner Freunde, den beiden jüngsten Herren der Gesellschaft, einen Ton anschlagen, der durchaus nichts von einem „Baby“ hatte.

Es gab ein lustiges Leben auf Buen Retiro. Die Villa hallte wieder von Gespräch und Gelächter. Oft galt es, eine so lange Tafel im Speisezimmer zu decken, daß der ausziehbare Eßtisch nicht ausreichte und unter Scherz und Lachen ein „Anbau“ gemacht werden mußte. Zur Nachmittagsstunde baumelten sechs, acht Hängematten zwischen den Bäumen, und die blauen Dampfwölkchen der Cigaretten wirbelten durch die üppigen Laubkronen. Zwischen zwei kräftigen Ulmen hing an starken Stricken ein kleines Brett, und auf dieser primitiven Schaukel ließ sich die kleine Lonny von den jungen Herren schwindelnd hoch in die Lüfte werfen und bekundete ihren Beifall durch ein gellendes Geschrei, sobald das Brettchen mit ihr nahe am Ueberschlagen war. Die Ruderpartien auf bekränzten Booten im Mondschein waren entzückend, und ein paarmal hielt man die vergnügtesten Picknicks im Walde, wobei große Reisigbündel, von den Herren herbeigeschleppt, angezündet und allerlei Getränke über den lodernden Holzstößen gebraut wurden. Auf dem Heimweg gab es dann große Forschungsreisen nach Irrlichtern und langwierige Beobachtungsstationen neben dem Sumpf – schließlich allgemeines Mitgehen bis zur nächsten Haltestelle der Pferdebahn, um die Familie Trelow zu begleiten, die zur Stadt zurück mußte – unterwegs Chorgesänge und Solovorträge, oft mit eigenen Dichtungen, Verabredungen zum nächsten Tage, ein Hin und Her von lauten Stimmen und lachenden Zurufen, das kein Ende nehmen wollte. Und dann zurück durch den dunkeln, leise im Nachtwinde rauschenden Wald – ein „Fackelzug“ von brennenden Wachslichtchen, die Herr Theobald Schrader aus der Schachtel holte, ein Aufschreien von Frau Leopoldine; sobald ein tiefhängender Zweig ihr Gesicht streifte oder ein Stück faulenden Holzes im Finstern leuchtete, galante Beihilfe von seiten der beiden Freunde, weniger ritterliche Beschwichtigungen durch den Gatten und den Bruder, Debatten über Sternschnuppen und Nordlichter, spätes Heimkommen und „gemütliches“ Beieinandersitzen im Speisezimmer bei einer Art leichten Punsches, den Frau Leopoldine vorzüglich zu brauen verstand.

Sorglos ließen die Gäste der Villa sich’s wohl sein. Der Gedanke, dem Hausherrn durch ihr Hiersein irgend welchen Zwang aufzuerlegen, kam keinem einzigen von ihnen. Mein Gott, er hatte sie ja selbst so liebenswürdig und höflich aufgenommen, das hätte er ja nicht nötig gehabt, wenn es nicht sein eigener freier Wille gewesen wäre! Sehr begreiflich übrigens! Der Mann hatte sich – wahrscheinlich in der Uebereilung – diese abgelegene Villa gekauft; nun er darin saß, fand er denn doch, dies Leben sei auf die Dauer etwas zu einförmig, da lud er sich also Gesellschaft dazu! An Arbeiten war für ihn ohnehin jetzt im heißesten Sommer nicht zu denken, es geschah ihm also nur ein Gefallen, wenn man ihn davon zurückhielt, und überhaupt, brauchte denn ein Mann wie er zu arbeiten? Er mußte doch sehr wohlhabend, beinahe reich sein – seine ganze Lebensweise sprach dafür! Er war nicht sehr mitteilsam, beinahe ein wenig schwerfällig, aber er besaß die gute Eigenschaft, seinen Gästen vollständig freie Hand zu lassen; seine Gegenwart legte niemand einen Zwang auf, und wenn er auch niemals

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_074.jpg&oldid=- (Version vom 5.4.2021)