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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nr. 8.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Echt.

Erzählung von R. Artaria.


Der Zug hielt noch im Salzburger Bahnhof. Nicht der große Wien-Pariser Eilzug mit seinen Sammetcoupés und deren dichtgedrängtem Inhalt von karrierten Ueberziehern und schleierumgebenen Filzhütchen unter Bergen von Handgepäck – nein, der bescheidene Bummelzug, die Reisegelegenheit der kleinen Leute, dessen Wagen leere Gepäcknetze und außerdem Fensterplätze genug zum Auslugen rechts und links bieten. Er hat es niemals eilig, dieser Zug, er hatte es auch nicht an dem scharfkalten Februarmorgen, da unsere Geschichte beginnt. Seine Thüren standen alle noch sperrweit offen, mit Ausnahme derjenigen des Damencoupés, welche eine vorsichtige Hand kurz nach dem Oeffnen wieder beigelegt hatte in der stillen Hoffnung auf Weitergenuß der bisherigen Ungestörtheit.

Sie gehörte zu den erfahrenen Reisenden, die große ältliche Dame mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, das ergab sich aus der Art, wie sie die beste Aussichtsecke in Beschlag genommen und sich mit Handgepäck und Reisedecke wohnlich darin eingerichtet hatte. Auf den shawlumwickelten, emporgezogenen Knien hielt sie ein Schreibmäppchen und benutzte, nur hier und da einen Blick aus dem Fenster werfend, die noch übrige Wartezeit zum hastigen Zeilenfüllen.

„Nur noch zwei Stunden Alleinsein,“ seufzte sie aufblickend, als jetzt beim ersten Glockenzeichen sich einiges Leben auf dem Perron zu regen begann, „und mein Feuilleton wäre beendet. ‚Zu Fuß über den Königssee‘ macht sich nicht schlecht, ich werde bei dem Titel bleiben. Heute abend in München die Reinschrift, morgen gleich expediert – dann käme es noch gerade recht für die Sonntagsnummer. O, nur nicht im letzten Augenblick noch eine Mutter mit Vieren, die durchaus hier herein muß. Die anderen Mitschwestern steigen ja doch alle mit Vorliebe ins Nichtrauchcoupé!“

Aber auch erfahrene Leute irren sich manchmal. Während die scharfen Augen der Reisenden noch den ganzen Perron nach den gefürchteten Vieren abspähten, öffnete sich vor ihren Knien sanft aber unaufhaltsam die Coupéthüre und ein ältliches Mannsgesicht mit friedfertigen Augen und einem harmlosen grauen Schnurrbärtchen lugte herein.

„Hier ist Damencoupé!“ herrschte sie ihm entgegen.

„Weiß wohl!“ erwiderte der kleine Herr. „Eben darum – habe die Ehre, Gnädigste! Tonerl,“ wandte er sich rückwärts nach einer schlanken Brünette, die ihm mit dem gepäcktragenden Mädchen folgte, „da komm’ her, da ist der schönste Platz für Dich, steig’ nur gleich ein!“

Und beflissen hob er zuerst die leichte Gestalt des Töchterleins und dann ihr vielfaches Handgepäck, verschnürte Pappschachteln und einen altersgrauen Reisesack, hinein. Die Dame warf einen Blick der Mißbilligung auf seine bauchige Fülle und die Balancierbewegungen des kleinen Mannes, der seine Kraft zusammennehmen mußte, um ihn glücklich ins Netz zu heben.

Endlich war alles untergebracht und der männliche Eindringling trat aus dem Heiligtum zurück. Fräulein Toni ließ sich auf den Sitz nieder, schlug die Füße übereinander, wippte ein wenig hin und her und lächelte mit ermunterndem Kopfnicken den


Ludwig Fulda.
Nach dem Gemälde von W. Auberlen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_117.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)