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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Die Mädchenhorte in Leipzig.[1]

Zwar hat sich in den letzten Jahren ein überaus warmes Interesse der Gründung von Mädchenhorten zugewendet, allein es giebt noch immer viele, die der ganzen Bewegung ablehnend und mit Vorurteilen gegenüber stehen. Besonders häufig begegnet man Einwendungen, welche auf den Vorwurf hinauslaufen, die Mädchenhorte nähmen den Armen ihre Pflichten gegen ihre Kinder ab, sie entfremdeten diese der Familie.

Solche Anklagen können nur von Persönlichkeiten erhoben werden, welche noch keinen Mädchenhort aus eigner Anschauung kennen. Die folgenden Ausführungen möchten dazu beitragen, die noch bestehenden Vorurteile zu zerstreuen.

Als ich vor ungefähr acht Jahren im Winter eines Abends in einer Vorortstraße Leipzigs ging, kämpfend mit Wind und Regen, kam mir schluchzend und weinend ein kleines Mädchen entgegen, so tief bekümmert, wie nur Kinder, meine ich, empfinden können. Als ich sie mitleidsvoll nach der Ursache ihres Kummers frug, klagte sie mir: sie habe bei Rückkunft aus der Schule die elterliche Wohnung verschlossen gefunden, weil die Mutter ausgegangen sei, Zeitungen herumzutragen, von welchem Geschäft sie erst gegen 8 Uhr zurück käme. Nun könne sie ihre Schularbeiten nicht machen, und wenn dann morgen der Lehrer sie auszanke, dann – und hierbei flossen die Thränen aufs neue – würde die Mutter sie schlagen! Ich konnte dem armen Kinde nicht helfen, ich versuchte nur zu trösten, aber das Leid und die Not des Mädchens gruben sich mir tief ins Herz, den ganzen Nachhauseweg über begleitete nach das armselige Bild und allerlei Pläne zur Abhilfe solcher Zustände wurden in mir rege.

Bei der Rückkunft in meine Häuslichkeit traf es sich – wie es in dem bekannten Gedichte heißt, „als wär’s ein Wink vom lieben Gott –“, daß die Näherin, eine Witwe, die hier für mich arbeitete, ganz verängstigt die Bitte an mich richtete, ob ich sie nicht früher entlassen könne! Sie sei in Sorge um ihr zwölfjähriges Kind, ein begabtes, aber wildes Mädchen, das die Zeit ihrer Abwesenheit benutze, sich ihren Arbeiten zu entziehen und auf der Straße die schlechteste, aber um so amüsantere Gesellschaft aufzusuchen, in der sie zu allen Thorheiten verführt würde. Was hülfen, sagte sie, alle Ermahnungen am frühen Morgen, ehe sie wegginge, wenn sie verhindert wäre, tagsüber denselben Nachdruck zu geben. Man wird sich denken können, wie schnell die Frau freigelassen wurde, und fast ebenso rasch war der Gedanke in mir entsprungen und mit ihm Wille und Entschluß, eine Stätte zu bereiten für solche bedauernswerte Kinder, die eine Mutter haben, ohne daß diese sich ihnen widmen kann, und zur Beruhigung für solche Mütter, die verdienen müssen, statt zu erziehen. Für beide leidende Teile müßte gesorgt werden, für Mutter und Kind. Und so giebt diese kleine Vorgeschichte zugleich Antwort auf die Frage: Wozu ist der Mädchenhort da? Sein Zweck und Ziel ist: unbeaufsichtigten Kindern während ihrer Freistunden geeignete Ueberwachung bei Arbeit und Spiel zu bieten.

Das wurde mir klar – so lange das Ideal des Menschenfreundes nicht erreicht ist, daß im Arbeiter- und Klein-Handwerkerstand die Frau vor Lohnarbeit außerhalb des Hauses bewahrt bleibt und ihren Hausmutterpflichten zurückgegeben werden kann, so lange haben wir Frauen, die wir imstande sind, reichlich für die Erziehung unserer geliebten Kinder zu sorgen, die wir nicht gezwungen sind, zu verdienen, die heilige Verpflichtung, hier helfend einzugreifen. Kein edles, warm empfindendes Frauenherz wird sich dieser Forderung verschließen. Und ich wende mich gerade an die Mütter aus unseren Ständen, die am sorgsamsten die Erziehung ihrer Töchter überwachen, mit der dringenden Bitte, zu bedenken, wie schwer es die Arbeiterfrau hat, das gleiche zu thun. Während sie noch ein Fräulein haben, damit ihre Kinder während ihrer kurzen Abwesenheit nicht ohne Aufsicht sind, hat die arme Frau, die den ganzen Tag außer dem Hause arbeitet, keinen Ersatz! Sie muß die Kinder sich selbst überlassen, muß sehen, wie trotz guter Anlagen, bei Fleiß und bestem Willen das Kind doch schließlich unter schlechter Kameradschaft auf der Straße verkommt. Welch ein Schmerz für die Mutter! Oder glaubt man, daß die Frauen, die arm sind, ihre Kinder weniger lieben als wir die unseren? weniger ihr Bestes wollen? – Dies wäre ein großer Irrtum! Ich kann versichern – und ich habe eine reiche Erfahrung gewonnen während der sieben Jahre, in denen wohl an 400 Mütter ihre Kinder bei mir zum Hort meldeten und ich ihre Lebensschicksale erfuhr – ich kann versichern, ich habe Mutterliebe von so hinreißender Kraft, von so unbegrenzter Opferfreudigkeit bei schwierigsten Verhältnissen kennengelernt, daß ich einzelne solche Frauen als Heldinnen verehre. Sie sind weit, weit höher zu schätzen als jene Damen, die, auf der Chaiselongue liegend, das Elend nur aus den Romanen kennen und nachher, höchst moralisch, versichern: man solle das Kind nicht der Häuslichkeit entziehen! Ja, wenn das Kind zu der Zeit nur eine Häuslichkeit hätte! Der Vater hat womöglich die Familie verlassen, die Mutter harrt treu bei den Kindern aus, aber natürlich muß sie jede Arbeit annehmen, um Brot zu verdienen, auch wenn sie dazu von früh bis spät außer dem Hause thätig sein muß. Die meisten Hausfrauen brauchen für ihre Wirtschaft zeitweilig fremde Hilfe, sei es eine Scheuerfrau, Näherin, Plätterin! Sie alle sind gern bereit, diesen Arbeiterinnen materiell zu helfen, sie zu beschenken mit Kleidern und Nahrung, aber wie wenige denken daran, was aus Seele und Körper der allein zurückgebliebenen Kinder wird, die der treusorgenden Mutterliebe entbehren!

Eine weiter greifende Bedeutung erhält aber die Idee der Mädchenhorte, wenn wir uns klar machen, daß die geordnete Ueberwachung der aufsichtslosen weiblichen Jugend ein Heilmittel für die Gefahr bildet, daß die Kinder aus der Verwahrlosung in die Verbrecherlaufbahn geraten. Es ist leider eine traurige Thatsache, daß die Zahl der jugendlichen Verbrecher seit Jahren stetig zunimmt. Die amtliche Statistik schätzt die Zahl der jährlich im Deutschen Reich verurteilten jugendlichen Personen bis zum 18. Lebensjahr auf 47000.

So ist denn die soziale Aufgabe des Mädchenhortes als eine doppelte festgestellt: er soll die ihm anvertrauten Kinder nicht nur vor dem verrohenden Einfluß des Straßenlebens bewahren, er soll sie auch zu besseren Menschen erziehen, ihnen Herz und Gemüt, die oft so stumpf dahinsiechen, beleben. Durch straffe Disziplin lehrt er die Unterordnung unter das Gesetz, wenngleich in liebevollerer Art, als es in der Schule möglich ist. Die Liebe zur Arbeit wächst, wenn diese in erfreulicher Umgebung unter gleich strebenden Mitschülerinnen gefertigt wird. Nichts ist wohl geeigneter, einen jungen Menschen zu erziehen, als das Aufwachsen in der Gemeinschaft: die edelsten Triebe des Herzens bilden sich da heraus, die gegenseitige Hilfsleistung, die Verträglichkeit, die Anerkennung Anderer, die Freundlichkeit des Gemüts, die Teilnahme an Anderer Freud’ und Leid; und durch die Geduld mit den Fehlern Anderer die Erkenntnis der eigenen – die Selbsterkenntnis.

Einen wesentlichen Anteil an solchen erzieherischen Erfolgen haben unsere Helferinnen. Es ist dies eine Gruppe junger Mädchen, Töchter aus den besten Familien der Stadt, die abwechselnd des Nachmittags die Lehrerin im Hort unterstützen. Durch den zwanglosen Verkehr mit ihnen wird in den Kindern ein feineres Gefühl, bessere Sitte geweckt. Die jungen Mädchen wirken durch ihr Sein, ihre Geistes- und Herzensbildung, oft ohne es zu wissen. Die armen Kinder sehen in ihnen nicht mehr den Feind: die Wohlhabenheit, sondern die freundliche ältere Schwester, die sie versteht. Aber auch den jungen Damen trägt dies Verhältnis zu den Kindern reichen Gewinn ein, der ihnen unverlierbar sein wird. Sie gewinnen Verständnis für Armut und Not, für die traurigen, gedrückten Lebensverhältnisse, von welchen die kleinen Lippen ausplaudern. Sie erkennen, daß Liebenswürdigkeit und Verstand, Herzensgüte und Talent sich auch bei den Kindern der Armut finden, und daß die Fehler, Flüchtigkeit, Trotz u. s. w., die gleichen sind wie bei Kindern höherer Stände, nur unverdeckt durch schöne Kleider, feine Manieren. Wir können nach siebenjähriger Erfahrung feststellen, wie in den einzelnen Pfleglingen die Begriffsentwicklung gewachsen, wie die Anschauungen über Recht und Unrecht, über Mein und Dein geläutert und verfeinert worden sind. Das sind Einflüsse, die den Gefahren des Großstadtelends besser entgegenarbeiten als alle Gesetze: denn sie treffen das Herz des Kindes!


  1. Wir glauben den schönen Aufschwung, welchen gerade neuerdings die Bewegung zu gunsten der „Mädchenhorte“ in vielen deutschen Städten erlebt, nicht besser fördern zu können als durch die nachfolgende Schilderung eines vorbildlich wirkenden Beispiels. D. Red. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_138.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2023)