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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Verwandte von diesen Leuten sitzen reich und angesehen in Berlin und Hamburg, Millionäre, deren Väter und Großväter die Taktik verstanden, langsam, im Laufe vieler Jahrzehnte, immer weiter gegen Westen zu ziehen, von Moskau her durch das Gouvernement Polen, die Provinz Posen, ins Herz von Deutschland. Derselbe Weg, der ungeheure Reichtümer und hohes Ansehen bringt, wenn man ihn bedächtig, überall ein paar Jährchen rastend und erwerbend, entlang schreitet, bedeutet denen, die ihn im Fluge durchmessen, bittere Entbehrungen, Enttäuschungen ohne Ende, vielleicht das Verderben …

*      *      *

Die Abfahrtsstunde naht heran. In der Desinfektionshalle des Norddeutschen Lloyd, der im Verein mit der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Aktiengesellschaft den weitaus größten Teil der deutschen Auswanderer nach Amerika „chartert“, nimmt der ungemein rege Verkehr allmählich ab; vorschriftsmäßig muß hier jeder, der Schiffe dieser Gesellschaften benutzen will, sämtliches Gewand von den heißen Dämpfen des Apparates durchströmen lassen und darf dann erst die Weiterreise in dem frohen Bewußtsein antreten, wenigstens äußerlich krankheits- und keimfrei zu sein. Das rege Leben auf dem Bahnsteige wächst mit jeder Minute. Die Familien und Reisegenossenschaften finden sich um ihren Agenten zusammen; das massenhafte Gepäck wird aus den Warteräumen herbeigeschleppt und türmt sich zu immer gewaltigeren Haufen auf. Ein durcheinander kribbelndes Gewirr, scheinbar so sinn- und zwecklos wie das Getümmel im aufgestörten Ameisenhaufen. Geschrei und Gesang, rastloses Hin und Her. Da versucht noch rasch ein unternehmender Händler, gutmütige Reisende um ein Billiges von überflüssigen Lasten zu befreien; da zwängen sich Schutzleute durchs Gedränge, ein paar allzu fröhliche Brüder zur Ruhe zu bringen; auch wohl Taschendiebe, die selbst diesen Armen nicht ihr Weniges gönnen, werden abgefaßt, und ein junger Bengel, ein Agent jener preiswürdigen Geschäftsleute, die unter frechverlogenen Vorspiegelungen Arbeiter für die Fieberplantagen „brasilianischer Freunde“ anwerben und ihre Opfer bis auf den letzten Groschen ausbeuten, fällt endlich der Gerechtigkeit in die Hände. Neben diesen bewegten Scenen fehlt es auch an Idyllen nicht: der fünfjährige Blondkopf, den Vater auf eine kolossale Pyramide von Kästen, Körben und Bettzeug als Wächter gesetzt hat, während er selber mit Mutter die letzte Habe aus dem Warteraum herbeischafft; die wackere Bäuerin, die die letzten paar Minuten bis zum Abgang des Zuges benutzt, ihrem Jungen das Loch im Rocke zuzunähen, denn im finsteren und gedrückt vollen Wagen bietet sich nachher keine Gelegenheit dazu.

Verhaftung eines falschen Agenten.

Der Zug ist stampfend hereingefahren. Er hält kaum, und schon sind die Beamten beiseite gedrängt, der erbitterte Kampf um einen „Eckplatz“ beginnt. Und dann, wenn man Unterschlupf gefunden und der Schaffner auch den Geduldigen ein „Quartier“ angewiesen hat – die kriegen oft das beste, in verriegelt gewesenen Wagen – bringt man langsam sein Hab und Gut ein. Dabei hört das Gerenne und der Lärm auch keine Sekunde lang auf; immer noch ist ein Stück vergessen oder vom Nachbar, den nun die Fügung in ein weit entferntes Coupé riß, mitgenommen worden, und es erscheint durchaus notwendig, sich davon zu überzeugen, daß er’s auch wirklich in treuem Gewahrsam hält. Die Frauen sind wie außer sich, und von den Grobheiten und Schimpfreden, die nun plötzlich herumfliegen, ließe sich ein ganzes Lexikon zusammenstellen. Endlich besänftigen sich die wilden Wogen. Der Stationsvorsteher atmet tief, sehr tief auf. Aus einem Wagen schallt schon „Lieb Heimatland, ade!“, von einer frischen Knabenstimme gesungen, ein Zeichen, daß die Ruhe wieder einkehrt; Mädchenköpfe erscheinen an den schmalen Fenstern.

„O sprecht! warum zogt Ihr von dannen?“ Die Frage Freiligraths aus seinem schwermütig schönen Gedicht drängt sich uns auf. Sie leitet dort Verse ein, welche den deutschen Auswanderern die Sehnsucht nach der Heimat, die sie in der Fremde befallen wird, voraussagen. Aber der frische Gesang, der aus dem Zuge ertönt, läßt die Wehmut nicht aufkommen. Gewiß! Wohin ein guter Deutscher auch in der Fremde gerät, er wird sein Vaterland nicht vergessen und mit Sehnsucht seiner gedenken. Aber das Gefühl der inneren Zugehörigkeit zur alten Heimat verleiht ihm auch die Kraft, sich im fremden Lande fest einzubürgern und dabei doch zu bewähren als ein Pionier deutscher Arbeit und deutscher Sitte!


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Loni.

Erzählung von Anton von Perfall.

 (4. Fortsetzung.)

Loni hatte Marei zu Bett gebracht, die Erregung der letzten Stunde hatte des Mädchens gebrochene Kraft völlig erschöpft; sie schlummerte rasch ein.

Die Mutter blickte lange auf das in Fieberhitze glühende Antlitz. Sie dachte an den Garten, von dem Marei erzählt, daß sie ihn in ihrer Ohnmacht gesehen. Aber andere Bilder schoben sich davor, die mit diesem Frieden nichts zu thun hatten.

Das Rasseln eines Einspänners weckte sie aus ihren Träumen. Sie kannte dies Geräusch gar wohl. Anderl kehrte heim von einem Viehhandel. Jetzt galt’s – jetzt oder nie!

Sie sog noch einmal Kraft aus dem Antlitz ihres schlummernden Kindes. – Es mußte sein!

Anderl kam ihr entgegen in vollem Sonntagsstaat. Ein kleiner Jägerhut mit stattlichem Gamsbart saß ihm im Nacken und ließ die stark geformte weiße Stirn frei, in welche dickes schwarzes Gelock sich drängte. Die graue Joppe mit grellrotem Futter kleidete eng und knapp die kräftige Gestalt. Männliche Frische lag über der ganzen Erscheinung. Nicht die Spur einer drückenden Schuld war in seinen Zügen zu lesen, in den unternehmend blitzenden Augen. Er pfiff ein lustiges Lied, es war ihm offenbar recht fröhlich zu Mut.

Loni verdroß jetzt dieser Gleichmut. Warum sorgte er sich nicht mehr, war er denn seiner Sache so sicher? „I hab’ mit Dir z’ red’n, Anderl,“ sagte sie in herrischem Tone.

Dem Knecht fiel dies nicht auf, Loni war vorsichtig und Späher immer in der Nähe.

„Endlich!“ durchzuckte es ihn. „Laß mi nur den Braun’ z’ erst unterbring’n, dann bin i schon da, Loni,“ sagte er mit einem zärtlichen Blick, der unerwidert blieb.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_142.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)