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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Zuversicht, aus der Marei im stillen entnahm, welches Opfer ihr diese mit der Trennung von Anderl gebracht haben müsse. Der Mutter zuliebe, sagte sie sich, wird er sein Versprechen erfüllen. Sie that alles, was in ihren Kräften stand, ihr diese Großmut zu lohnen; selber von Liebe bewegt, verstand sie die Größe des Opfers, so unsympathisch ihr die Neigung der Mutter auch immer gewesen war.

Auch Loni zählte die Tage! Der Marienkalender enthielt die ausführliche Schilderung einer Seereise von Hamburg nach New York. Mutter und Tochter überraschten sich wiederholt beim Lesen derselben.

Aber was Loni bewegte, waren keine Sehnsuchtsgedanken. Sie fühlte sich von einem unheimlichen Zwang befreit, seitdem der Knecht den Hof verlassen. Anfangs fand sie diese Stimmung ganz natürlich; sie entsprach dem Bewußtsein erfüllter Mutterpflicht; sie wollte zunächst ja nur für das Glück ihres Kindes sorgen. Allmählich fiel es ihr aber doch auf, daß die Sehnsucht nach dem erträumten Glück im neuen Lande sich nicht stärker einstellte, daß im Gegenteil Angst vor der Trennung von Marei, vor dem Losreißen von der Heimat ihr Herz bewegte. – Das war der Mentnerhof doch, trotz allem Leid, das sie darin erfahren! Und wie verstand es Marei, ihr auszumalen, wie sie an dem rosigen Glück ihrer Zukunft beteiligt sein werde; für das übliche Los einer Austräglerin war in dem Bilde kein Platz. Es überkam sie der Zweifel, ob ihre Liebe zu dem flüchtigen Manne die rechte sei. Wahre Liebe muß doch auch in der Ferne wirken – erst recht! Und dann regte sich in ihr der Gedanke: vielleicht bereut auch er schon die Abrede; sie würde ihm ja doch nur dort drüben zur Last sein, wo es galt, vor allem für die eigne Unterkunft zu sorgen. Aber den Brief mit der Selbstanzeige, den wird er schreiben; an dieser Ueberzeugung hielt sie bei all diesen Zweifeln fest.

Der Flori mied jetzt ihr Haus; er fürchtete wohl ihren Haß seit jener Scene mit Marei. Doch da ging er fehl; Loni war ihm längst nicht mehr gram darüber, daß er so zäh sie an ihr Versprechen gemahnt.

Es fehlten immer noch zwei Wochen an der Frist, bis zu welcher der Brief von Anderl aus Amerika eintreffen konnte.

Es war ein wonniger Frühjahrstag: alles eitel Lust und Fröhlichkeit in den blütenschweren Zweigen, auf den blumigen frischen Wiesen, auf dem Hausdach. Marei machte sich im Stalle zu schaffen. Mit den neuen Kräften war auch die Arbeitslust in der Mentnertochter erwacht. Loni hatte wieder einmal den Marienkalender in der Hand und betrachtete, in Gedanken versunken, ein Bild – „Sturm auf See“ stand darunter. Das Schiff rang den Todeskampf mit Sturm und Wogen. Das Bild hatte die Möglichkeit eines Schiffsunterganges ihr schon öfter nahe gerückt. Mit ihrer lebhaften Einbildungskraft sah sie den Anderl unter den Passagieren des Schiffes. Sie sah sein Gesicht, so bleich, so verzerrt wie in der Nacht, in der er den Förster erschossen, sie hörte seine Notrufe – jetzt stürzte eine große schwere Woge über ihn her. – „Loni!“

Sie schrie jäh auf, ließ das Buch fallen; sie hatte seinen letzten Ruf gehört.

„Gar nix zum Derschreck’n, um’kehrt, zum Freu’n!“ rief eine Stimme zum offenen Fenster herein. Sie blickte hin – da stand der Bürgermeister, der einen Brief in der Hand schwenkte. Er war es, der ihren Namen gerufen. „Vom Anderl ’was,“ fuhr er fort, ins Haus einbiegend, „Da wirst schau’n, Bäuerin!“

„Vom Anderl – schon heut’?“ Low fuhr erschreckt auf. „Ja, wia is denn des mögli? Es san ja g’rad erst zwoa Wochen um, daß er fort is?“

Da trat auch schon der Bürgermeister ein. Sein Gesicht strahlte. „Hab’ mir’s ja alleweil denkt! Da hör’, was der Anderl schreibt – aus Hamburg – aus der großen Hafenstadt, wo’s ’nübergeht nach Amerika.“

Der alte Mann setzte seine Brille auf und las: „Weil’s jetzt do gleich is, will i an offenes Geständnis mach’n, ’s is wegen der Mentnerbäuerin und ihrem Madl. I hab’ den Kirchberger derschossn am Tag nach dem Schuß, den der Mentner than hab’n soll. Zuganga is so. I und der Mentner war’n auf der Wildbahn. Im Erlgrund treffen wir auf’n Förster. Er hat g’rad den Mentner seh’n könna und hat’n ang’schrie’n, mit der Büchs’ an der Wang’. Wia i den Kirchberger kannt hab’, hätt’ er’s glei’ schnall’n lass’n, da hat mi der Mentner do g’reut und i bin ’m Förster zuvor komma, des is all’s! Reine Thatsach’! Bei mir is des ka Mord net. Der Förster oder der Mentner, so is g’stand’n. Zeig’s beim G’richt an, i bin längst dahin, wenn ös den Brief in Händ’n habt, in Afrika oder sonst an Ort, i weiß selb’r no net.

An Gruaß an d’ Bäuerin, sie soll auf den Anderl net vergess’n, der g’rad ihr’n Mann z’liab in die ganze G’schicht’ eini komma is.

Andreas Wisbacher.“ 

„Was sagst jetzt dazua?“ fuhr der Bürgermeister fort. „So a Handlung hätt’ i dem Mensch’n wirkli net zutraut. Aber Du bist ja ganz verhofft? – ’s muaß Dir ja g’rad sein, als ob Dir a Stein vom Herz’n wär’! Dein Mann sein Andenk’n wieder g’reinigt und ’s Marei erst, jetzt kann’s ja ungeniert heirat’n ihr’n Willy – und d’ Hagenberger all’ miteinand – ’s war do a schiache Sach’, a Schandfleck auf der ganz’n G’meind.“

Loni aber zeigte nichts von der Freude, die der Alte in ihr voraussetzte. „G’rad den Briaf möcht’ i seh’n an Augenblick!“ unterbrach sie ihn ungeduldig.

„Da, les’ nur selb’r!“

Der Alte reichte ihn ihr.

Es waren seine Schriftzüge – „Hamburg“ stand auf dem Umschlage.

„Werden’s ihn jetzt verfolg’n? Glaubst? Uebers Meer aa – ’s G’richt? Wenn sich die Sach’ so ’rausstellt hat, mit ’m Förster?“ fragte sie gespannt.

„Die Sach’ mit ’m Förster wär’ gleich – a Mord is’ do! Der Förster war ja in sei’m Recht und der Anderl net, – aber übers Wasser? Glaub’s net recht! – Hat aa kan Wert! Lauf’n lass’n so Leut’, drüben is er guat und z’neiden is er aa net. Aber des kümmert mi net, mei’ Pflicht is, daß i mit dem Briaf sofort aufs G’richt geh’, ’s andere is dann ihr’ Sach’. I hab’ mir g’rad denkt, Du müaßtst glei’ davon wiss’n. – Jetzt siech’ i freili, daß ’s Zeit g’habt hätt’! Was weiß ma’, bist alleweil a B’sondere g’wes’n. ’s Marei wird mir schon an bessren Dank wiss’n für die Nachricht.“

Er wandte sich zum Gehen.

„Nix für unguat, Bürgermeister, wenn i mei’ Freud’ net so zeig’n kann,“ brachte nun Loni beruhigter vor. „I dank’ Euch scho’! Dem Marei werd’ i ’s selb’r ausricht’n, da braucht's Euch kei Müah z’geben.“

„Naa, naa, des laß i mir net nehma! Die Freud’ möcht’ i schön’ selb’r derleb’n – ah – da is ’s ja, ’s Marei!“

Marei hatte die fremde Stimme gehört und war eingetreten. Eine Bangigkeit befiel sie beim Anblick des Bürgermeisters und des Schreibens in seiner Hand. Im Antlitz der Mutter las sie neue Besorgnis.

„Von wem glaubst, daß der Brief is, der in meiner Hand da?“ fragte schmunzelnd der Alte, mit dem Schreiben ihre Wange streichelnd.

„Vom Anderl!“ stieß das Mädchen unwillkürlich heraus.

Loni, die sie warnend angeblickt hatte, unterdrückte mühsam eine Regung des Zornes über die Unüberlegtheit der Tochter.

„Ja, wie kommst denn Du auf den Anderl? Des is aber g’spaßi!“ sagte erstaunt der Bürgermeister.

„Vom Willy, wollt’ i sag’n,“ verbesserte sich das Mädchen, dem die Verlegenheit das Blut in die Wangen trieb. „Natürli, was soll denn der Anderl –“

Die Falschheit kam ihr recht schwer an.

„Da find’ i gar nix g’spaßig’s dabei, wenn’s Marei meint, vom Anderl! Wenn aner so lange Jahr’ in an Haus war und geht fort, is ’s doch nix besonders, daß er aa bald amal von sich hören laßt,“ bemerkte in spitzigem Tone Loni. „Und er is’ aa, der geschrieb’n hat, Marei!“

„Freili hat er g’schrieb’n,“ gab der Bürgermeister zurück, „aber an mi und net ans Haus, wo er so lang dient hat. Und an Sach’ hat er g’schrieb’n, die Dir wohl neuer sein wird, als s’ Deiner Mutter sein muaß.“ Er warf einen mißtrauischen Seitenblick auf Loni.

„Dein selig’r Vater is unschuldi – der Anderl hat den Förster derschoss’n! Das schreibt er offen und ehrli’, auf daß Du ungeniert den Willy heirat’n und glückli’ werd’n kannst. Gelt, das is a Neuigkeit, die’s wert is, daß i Dir’s selb’r bring’.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_146.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2021)