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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

aus, daß Toni an sich halten mußte, um nicht in das Gelächter der beiden schwesterlichen Plagegeister mit einzustimmen. Sie schalt die Mädchen tüchtig aus, nahm den schluchzenden Kleinen in ihre Arme und fragte mit dem ganzen Aufgebot ihrer jungen Tantenwürde: „Hast Du keine Aufgaben, Ursi? Es wäre gerade vor dem Essen noch Zeit, damit anzufangen.“

„Fällt mir gar nicht ein!“ jubelte diese, indem sie langbeinig mit fliegenden Röcken und Haaren im Zimmer herumsprang und ihr Heft nach der Decke empor wirbelte. „Unser Fräulein ist so zuwider, und sie mag mich nicht, deswegen lern’ ich extra nichts – hopsasa und tralala!“

„Auf der Stelle kommst Du her und setzest Dich hinter Deine Bücher!“ rief Toni mit so energischem Ton und Fingerdeuten, daß Ursula es für geraten fand, dem Befehl zu folgen, und widerwillig ihren Schulranzen herbeiholte.

Währenddessen trat Irmgard, die ältere und sittigere von beiden, heran und sagte: „Tante Toni, soll ich Dir einmal unsere Kostüme für morgen zeigen? Wir werden zwei Königskinder und bekommen goldgestickte Leibchen und Blumenkränze auf. Unsere Haare werden schon seit acht Tagen abends gewaschen, daß sie wie Goldschaum aussehen, und morgen lockt sie die Mama, so ganz in großen Wellen, weißt Du, damit wir die Schönsten von allen sind.“

„Na,“ sagte Toni, „bis Du einmal die Schönste bist, da kannst noch eine Weile warten, Dirndl, bis dahin hat’s noch gute Zeit!“

„O, durchaus nicht mehr so lange!“ erwiderte die Elfjährige pikiert. „Herr Pereda hat neulich gesagt: das giebt einmal eine wirkliche Schönheit! Damit meinte er mich, und ich hab’s wohl gehört, obwohl er mit der Mama sprach. Der Papa sagt ja auch immer: die Mädeln sind zum Schönsein da!“

„Zum Bravsein wäre gescheiter!“

„Gar nicht!“ beharrte Gertrud. „Wer recht schön ist, bekommt einmal den reichsten Mann und schöne Kleider und Blumen und eine Equipage –“

„Un Wetschekuchen un Nüss’,“ ergänzte Hansel die in seinen Augen lückenhafte Aufzählung, brach aber unmittelbar darauf in ein neues fürchterliches Gebrüll aus, denn Ursula hatte sich herumgeschlichen und fletschte ihn mit aufgerissenen Augen und in die Nasenlöcher gebohrtem Finger aus bedrohlicher Nähe an. Die wohlverdiente Ohrfeige ereilte sie zwar im nächsten Augenblick, aber nur, um auch bei ihr ein zorniges Aufheulen zu entfesseln. Der armen Toni wurde schwül bei diesem pädagogischen Praktikum an ihren schönen Nichten, und es dauerte, trotzdem sie ihre entschlossenste Miene aufsetzte, eine ordentliche Weile, bis sie Herrin der Situation war. Zwischen allem Wehren und Verbieten dachte sie seufzend: „Es ist halt heute auch Freitag, da ist’s ja natürlich, daß alles verkehrt geht, da darf man sich nicht wundern, was auch geschieht!“

Und doch wunderte sich Toni über etwas – noch keine Stunde später, als sie mit den Kindern zum Essen kam; über das seelenvergnügte Gesicht Volkhards nämlich, der im Hereintreten den kleinen Buben abfing und gegen die Decke emporwarf, daß sofort ein lauter Jubel und Hallo losging. Auch Frau Resi schöpfte die Suppe mit gewohnter heiterer Behaglichkeit, sie sah schön aus wie immer in ihrem gestickten granatfarbenen Tuchkleid und wechselte aufs unbefangenste mit ihrem Mann Rede und Antwort, während sie die Teller füllte. Als dann vollends die prächtige Lachsforelle erschien, von der verständigen Köchin zierlich mit Petersilie umkränzt und von neuen Kartoffeln begleitet, da ging dem Manne das Herz auf und er sagte mit bedeutungsvollem Augenzwinkern:

„Bist halt doch eine famose Frau, Resel, verstehst Dein’ Sach’! Kinder, wißt’s was? Morgen wollen wir lustig sein, solid werden wir dann von übermorgen an!“




5.

Nachmittag vor dem Ball …. Aufregung und Hetzerei schon unter gewöhnlichen Verhältnissen, in schlichtbürgerlichen Familien! Wie aber erst in einem Künstlerhause, wo alles kostümiert werden muß, Mann, Frau und Kinder, wo alles Apartheit atmet, Erfordernisse wie Hilfsmittel, und das Kleinste mit derselben Sorgsamkeit behandelt wird wie das Größte, damit schließlich der wahre, unnachahmliche Totaleffekt herauskommt! Da gilt es hin und her laufen, malen, nähen, kleistern, vergolden bis zum letzten Augenblick, das ganze Haus ist in Bewegung bis zur Thürklingel, die auch unausgesetzt geht, um Gärtnerjungen, Schneidermamsells mit großen Schachteln, ausgestopfte Pfauen, vergoldete Palmenwedel und vieles andere, sowie bedrängte Freunde und Kollegen hereinzulassen, die alle noch geschwind etwas zu fragen und zu borgen haben. Nur der Friseur läßt warten, und die Sehnsucht nach ihm steigt mit jeder Viertelstunde. Aber hier heißt es Geduld lernen. Es giebt nur einen in München, dessen Begabung und Darstellungsvermögen in die wahre künstlerische Höhe reicht, und dieser Vielbegehrte fährt seit morgens um acht Uhr wie rasend in der Stadt herum. Bei jedem Klingelzug hofft man: er ist’s! aber siehe da, es ist jedesmal ein anderer.

Es dämmerte bereits; den Kaffee hatte man rasch getrunken, Hachinger, der zu allen Tageszeiten Erscheinende, war, wie Toni hoffte, zum letztenmal für heute dagewesen und mit Volkhards letzter Hellebarde abgezogen, nun wandte sich Toni, nachdem sie der Kinderfrau geholfen, die schönen blonden Mädchen bis aufs Kostümüberwerfen herzurichten, ihrem eigenen Stübchen zu, wo seit dem frühen Morgen schon alle Gewandstücke sorgsam auf dem Bette ausgebreitet lagen: das Unterkleid von altem Goldbrokat, die purpurne Tunika samt allem Schmuck und den seltsam verschnürten Sandalen.

Toni brauchte den Friseur nicht, ihr dichtes lockiges Haar durfte nur aufgelöst werden, um sich in großen Wellen bis zum Gürtel zu ergießen; dann würde sie den juwelengeschmückten Reif darauf setzen, die ‚mystische Krone‘, wie er gesagt hatte! Sie wußte zwar nicht, was das heißen solle, aber es klang doch wunderschön und sie stand lange, verträumt die großen Perlen und Rubinen anstarrend. Dann machte sie sich daran, das Haar zu lösen, denn bei seiner großen Fülle war das glatt Auskämmen eine ziemliche Arbeit. Kaum hatte sie die ersten Nadeln gezogen, als ein scharfer Riß der Thürglocke durchs ganze Haus gellte. Aha! der Friseur … Aber nein, es war eine bekannte Stimme, die hastig und laut nach Frau Volkhard und Fräulein Schwester fragte. Jetzt, um halb fünf Uhr – was mochte das zu bedeuten haben?! …

Toni steckte eilig die Haare wieder auf, dann trat sie ganz leise auf den kleinen Vorplatz hinaus, wo sie das erleuchtete Treppenhaus übersehen konnte. Richtig! Da unten stand Pereda in lebhafter Verhandlung mit dem Hausmädchen Greti, welches erklärte, die Damen seien für niemand mehr zu sprechen.

„Ich weiß schon; melden Sie mich nur gleich an,“ erwiderte er mit imponierender Selbstverständlichkeit. „Flink! ich habe keine Zeit zum Warten.“

Die dicke Greti sah in sprachloser Bedrängnis nach oben, ob sich vielleicht jemand zeige. Pereda folgte dem Blick und eilte, als er Toni sich über das Geländer beugen sah, ohne ein weiteres Wort die Treppe empor zu ihr. Es war fast ein Kniefall, mit dem er von der vorletzten Stufe aus ihre Hand erfaßte und rief: „Mein gnädiges Fräulein, helfen Sie mir, ich bin ohne Sie ein verlorener Mann.“

Sie sah ihn voll Bestürzung mit großen Augen an. Was mochte ihm begegnet sein? Er sah so blaß und aufgeregt aus, daß sie Angst für ihn empfand. „Gern –,“ stammelte sie, „wenn ich Ihnen etwas helfen kann – aber, was ist es denn? …“

„Sie müssen heute abend auf meinem Wagen die ‚Phantasie‘ vorstellen,“ erklärte er hastig, indem er, sich zu ihr herabbeugend, ihr dringend in die Augen sah. „Wollen Sie? Ja, nicht wahr? O, Sie ahnen nicht, was Sie mir damit erweisen!“ Und er küßte ihr feurig die Hand.

Toni hatte nicht Ja gesagt, sie hätte gar nichts sagen können vor dem Sturm von wirbelnden Gedanken, der durch ihren Kopf fuhr. Sie hörte, ohne zu begreifen, sie hatte nur ein Gefühl der vollkommenen Unmöglichkeit … Sie auf Peredas Wagen?! Eine Hauptfigur im Zug … jetzt, drei Stunden vor dem Ball … ja, warum denn und wieso? Sie verstand ja keine Silbe von allem, was er, sich überstürzend, an sie hinsprach.

Da kam aber schon hinter ihnen Frau Resi, von dem bestürzten Hausmädchen benachrichtigt, eilig die Treppe herauf. Sie knöpfte noch eben den Schlafrock am Halse zu und fuhr dann mit beiden Händen auf den Kopf, um die halb herabfallenden roten Haarmassen eilig wieder mit dem Kamme zusammenzudrücken.

„Was giebt’s denn?“ rief sie vom untern Absatz herauf. „Was wollen Sie denn, Herr Pereda? Kommen Sie doch da herein, daß man mit Ihnen reden kann!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_166.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)