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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

thörichte und überflüssige Bewegungen meidet, fliegen sie dahin, vogelleicht, vogelschnell, und gleiten durch das Auf und Ab der Wogen so glatt wie eine rollende Kugel. – Am sichersten und angenehmsten sitzt man auf türkische Art, die Füße angezogen, in den Polstern am Boden. Unser Kaïk hat besonders hübsch geschnitzte Seitenwände: vergoldete Tulpenstengel durch Perlenreihen verbunden – wie heiter stimmt das Gold zum hellen Tone des Olivenholzes! Diese Einfahrt ins Goldene Horn mit seinem unglaublichen Schiffstreiben, Mit seinen Ufern, an deren Hügeln die vorstädtischen Häusergruppen der Riesenstadt sich aufbauen und drängen, hundertgestaltig, hundertfarbig, zierlich wie Vogelkäfige, düsterschwer wie Kasematten, ist geradezu einzig herrlich. Ueber die Häusermassen hinwegragend Kuppeln und Minarete, spitze Cypressen, kohlschwarz, breite Pinien, tiefgrün, blütenüberschüttete Judasbäume, dunkelrosenrot! Und dazu welches Leben! Das Schnauben, Puffen und Pfeifen der Dampfer, das weiche Flattern der Segel, indem sie sich umlegen, das helle „warda!“-Rufen der Kaïkdjis, „gieb Acht!“ – das melancholisch wilde Singen der Türken, die lieblich schlichten Volksweisen der Griechen. Und das Wasser so still und schön, bläulich, grünlich schillernd, streckenweise ganz und gar vergoldet zum Augenverblenden.

Am Fanar, der griechischen Vorstadt, gleiten wir vorüber und landen gleich darauf im Balat. Nun verstehe ich meines Begleiters Geste von vorhin! Ich bebe selbst zurück vor dieser Stätte der schmutzigsten Verkommenheit, in welcher hier das Ghettoelend nistet. Wir waten durch grundlose Sträßchen voll spitz aufragender Steine. Düsterster Verfall, wohin wir blicken! Holzhütten und zeltartige Baracken lehnen an feuchten, ruinenhaften Mauerresten, kleben an Felshängen, vertiefen sich in grabartige Erdlöcher hinein. Räudige Hunde durchwühlen winselnd den Kot; verwahrloste Weiber waschen unbeschreibliche Lumpen in übelriechenden Lachen. Vor altersmorschen Butiken lärmendes Feilschen. Ueberall abstoßende Eindrücke! Nur Bochor, der Kesselflicker, der mit stillem scheuen Blicke von seiner Arbeit aufschaut, als mein Begleiter ihn anspricht, bewegt mir die Seele. „Gott der Gerechte wird sein Volk aus der Tiefe erretten – wir warten!“ antwortet er auf die Frage, wie man an solchen Stätten noch hausen und atmen könne!

Landestelle von Barkenführern.

Wir biegen um die Ecke der nächsten, finsteren Gasse, steigen steil bergan, nun ein Stückchen bergunter und auf welligem Boden vorwärts: nun sind wir bei den Tschingani, im Zigeunerviertel. Derselbe Schmutz, noch größerer Verfall, noch elendere Baracken, aber – Wonne für Maleraugen! Die Männer antike Bronzegestalten in starrenden Lumpen; hohe Weiber, schlank von Hüften, die Füße schmal und vornehm gehöhlt, schreiten königlich, ihren Thonkrug auf dem lockigen Scheitel. Andere stehen in den Thüren; Schleiertücher von stumpfem Dunkelblau hängen ihnen an den braunen Wangen hin und auf die fahlroten kaftanartigen Untergewänder herab. Hier bettelt uns eine Madonna von Murillo an, die ein Prachtkindchen auf dem Arme hält, ein braunes, völlig nacktes Kerlchen mit Augen wie Leuchtkugeln, um das rechte Pätschchen ein Amulett geknüpft, eine blaue Perlenschnur mit einem fischgrätenartigen Anhängsel. Wilde Buben stürzen hinter uns drein, fuchteln bedenklich mit ihren kurzen, scharfen Messern in der Luft und schreien: „Was wollt Ihr hier? Packe Dich, verfluchter Hund, trolle Dich, weiße Hündin!“ Als aber mein Begleiter an die Waffe greift, stieben sie im Nu hinweg. Gerade gegenüber dieser jugendlichen Räuberbande, in einer Art von Thalkesselchen, zwischen einem wüsten Abhange und einer wüsten Brandstätte, spielt eine Schar schöner Kinder, in grellbunte Fetzen gekleidet. Da und dort blinkt ein Goldflitter oder eine verbogene türkische Schmuckmünze zwischen den gelben und roten Lappen, die um die zierlichen Glieder der Kleinen hängen, so lose, so zwecklos, als habe ein launischer Windstoß sie dorthin geweht, wo sie jetzt kleben.

Die Kleinen tanzen und johlen, klopfen ein Trommelchen und lassen ein Tamburin schwirren, das ist funkelnagelneu und macht ihnen augenscheinlich einen Heidenspaß.

„Gestohlen! – Die jungen Aasgeier!“ bemerkt mein Chiot verächtlich. Indem öffnet sich die halbzersplissene Thür einer verfallenen Schenke hart neben unseren Tritten; ein Dunst von brenzligem Sesamöl und Paprika strömt uns entgegen und zu gleicher Zeit der Klang einer Fiedel, die eine sterbenstraurige Melodie singt, irgend ein Klagelied ohne deutlichen Rhythmus. Dann aber wird diese weiche Musik plötzlich von scharfem Schellenklirren und Fingerpochen und Surren übertönt: eine große schlanke Dirne tritt unter die Thür und verstellt uns gleich darauf den Weg.

„Bak, Madama, aman, Madama!“ sagt sie mit einer so süßen Schmeichelstimme, wie ich sie im Leben nicht hinter diesem großen, äußerst sinnlichen Munde mit seinen tierisch kräftigen Zähnen gesucht hätte. „Bak, Madama!“ – „Höre mich an, Frau!“ wiederholt sie und sieht, ihr Tamburin über dem Kopfe haltend, meinen jugendlichen Begleiter (der daheim Frau und Kind hat und sich den Glücklichsten der Sterblichen nennt!) mit ihren Feueraugen durchbohrend an, bis ihm ein tiefes Rot in die bräunlichen Wangen steigt.

„Lalé,“ sagt er und wirft ihr ein durchlöchertes Parastück vor die Füße, „hebe Dich weg, Du Teufelin, unser Geschick liegt in Gottes Händen und in unseren eigenen; wir bedürfen Deiner Märchen nicht.“

Aber er hat sich verrechnet, der junge Teufelsbanner! Dies heimatlose Vagabundenvolk ohne Glauben und ohne Treue übt die geheimnisvolle Kunst des „Bannens“ meisterhaft neben seinen anderen Künsten. Sie bezwingt uns, diese imperatorische „Lalé“ im roten Rock und roten Mieder, durch ihr Blicken und Flüstern, ihr stürmisches Wollen, ihre unaufhaltsame Beredsamkeit. Hier kommt schon die klassische „Zigeunermutter“ und der Fiedelspieler

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_171.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)