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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

gleichgültig an ihren Pflöcken und lassen sich von den nackten, wilden Kindern quälen, während ein paar dürre Weiber, am Tschibuk saugend, die verblaßten Manteltücher tief ins Gesicht gezogen, uns bösen Blickes nachstarren.

Der kleine Jahrmarkt ein Tohuwabohu, ein Wirrsal ohnegleichen! Er belustigt mich ungemein, trotzdem ich mich ein wenig fürchte. Da sind ja inmitten dieses phantastischen Volkes unsere heimischen „sechsbeinigen Schafe“ und „zweiköpfigen Kälber“, „die dicke Dame“ mit den Centnergewichten am kleinen Finger, die Wahrsagerin und das mechanische Theater. Als ganz besondere Sehenswürdigkeit „ein Pelikan aus Norddeutschland“, was mein norddeutsches Herz besonders tief rührt, mehr als die Schießbuden und der „türkische Honig“ meiner seligen Kindertage. Das Karussell hat lauter springende Greife und Chimären anstatt der bei uns üblichen Pferdchen, und die beliebten „großen Schaukeln“ sind niedrigstehende viereckige Kasten, die durch nachdrückliche Kurbeldrehungen in kurzen, heftigen Rucken auf und ab schwanken. Die gelbbleichen, mit der Seekrankheit ringenden Zigeunergesichter sind von überwältigender Komik. Zwischen den Schaukeln, im Schutze eines völlig zwecklosen Mauerrestes, halten die „Mahlebi“-Verkäufer ihre Ware feil. Diese ist eine ganz spezifische Erquickung in türkischen Landen, eine Art feiner Reismehlcreme mit Zucker und Rosenwasser gewürzt, in der Regel äußerst reinlich zubereitet. In unserem Fall kann das freilich auch der Nachsichtigste von dieser Erquickung für Zigeuner und Vagabunden nicht behaupten.

Seitab auf einem kleinen Wiesenrund tanzen die Hamals im Kreise. Ein sonderbarer Tanz, schwer zu schildern! Eigentlich nur ein langsames Treten, Stampfen und Zittern der Beine von der Wade bis zum Schenkel, ein mathematisch abgemessenes Emporwerfen der Arme und Zurückbiegen des Kopfes. So bewegen sich diese ernsten Athleten anscheinend leidenschaftslos um die Musik in ihrer Mitte: die große Trommel, die in kurzen Absätzen ihr scharfes „Tam! Tam!“ ertönen läßt, die schrille Rohrflöte, die unablässig vier oder fünf melancholische Noten singt, und den Dudelsack, der eine freche modulationslose Begleitung in aussetzenden und sich wunderlich verschiebenden Triolen dazu plärrt. Jetzt stelzen die Tanzenden daher, Schulter gegen Schulter gepreßt, jetzt ein kurzer allgemeiner Bocksprung: die Köpfe stemmen sich mit dem Kinne fest an die Brust – nun schwenkt der Tanzanführer sein rotes Tuch und alle hüpfen, sich lose bei den Händen haltend, wie eine Gesellschaft täppischer Idioten. Kein Laut dringt über die geschlossenen Lippen, kein Ausdruck fliegt über die charaktervollen Gesichter hin, weder Lust noch Anstrengung noch Erregung. Welch verkehrte Bilder machen wir uns daheim von der Leidenschaft der Orientalen!

Das Publikum dieses wunderlichen Vergnügens ist im höchsten Grade bedenklich: Volkshefe – Zigeuner, ein Gemisch grellster Farben, weißester Zähne und glänzendster Augen mit krassester Frechheit und zähester Bettelei. Mit süßer Stimme und zierlichen Gesten wissen diese schmutzig lieblichen Kinder und Mädchen diese welken Weiber, braune Wickelpüppchen im Arme, ihr „Aman, Madama!“ zu girren, und fast ausnahmslos streckt sich zu den Worten ein sehr schmales Händchen mit zartem Gelenke bettelnd aus. Man muß sich hart dagegen machen in Konstantinopel.

Vom Jahrmarkt aus verirren wir uns noch auf das große armenische Totenfeld unweit des Taksim. Eine Wüstenei trotz der knospenden Bäume und der tausend und abertausend duftenden Veilchen im frischgrünen Kirchhofsgrase. Diese flachen, grauen Steine, hart gegen den Boden gedrückt, die kastenartigen Grabgewölbe ohne eine Ahnung von Schmuck und Würde beklemmen das Herz. Die Gruppen der festtäglich geputzten Menschen, die dort lagern, tafeln, schwatzen und tanzen, geben dem traurigen Bilde eine leise, bunte Färbung und der Blick hinüber nach der Spitze des Seraïs und nach Skutari ist von himmlischer Schönheit. Kehrt man aber von dieser sonnigen, glänzenden Ferne zurück in die nächste Umgebung, so winseln räudige Hunde und schmierige Bettler von zehn zu zehn Schritten. Lumpen und Elend überall ausgestreut wie Distelsamen in diesem gottbegnadeten, paradiesischen Lande. Machen es die schroffen Gegensätze so anziehend? Ich bin mir darüber nicht völlig klar geworden, denn all die Gegensätze versöhnt das ewige blaue Meer, überblüht der wonnige Frühling seiner Küsten!


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Lampen der Zukunft.


Die Elektrotechnik hat nicht nur mit neuen „Wundern“ die Welt erfüllt, sondern auch auf alle Industrien anspornend eingewirkt. Am offenkundigsten gestaltete sich dieser Einfluß auf dem Gebiete der Lichterzeugung. Vor zwanzig Jahren stand das Leuchtgas namentlich für Zwecke der öffentlichen Beleuchtung ohne Nebenbuhter da und die Gasanstalten gaben sich keine besondere Mühe, durch neue Fortschritte der Menschheit ein immer helleres Licht zu bieten. Da wurden die alten Gasbrenner durch das neue elektrische Licht überstrahlt, und siehe da, durch den Wettkampf gezwungen, nahm die Gasbeleuchtung einen neuen ungeahnten Aufschwung; sie wurde durch neue zweckmäßigere Brenner, durch Einführung des Gasglühlichtes etc. wesentlich verbessert.

Die Wunderfee Elektricität ist aber berufen, das Leuchtgas noch in einer anderen Weise zu verbessern. Aus früheren Schilderungen kennen unsre Leser bereits den elektrischen Schmelzofen, in dem Temparaturen bis 3500° C erzeugt werden. Er erreichte eine Berühmtheit, als Moissan versuchte, in ihm auf künstlichem Wege echte Diamanten zu erzeugen. In diesem Schmelzofen können aber noch viele andere Stoffe hergestellt werden, die für das Wohl der Menschen sicher viel wichtiger sind als funkelnde Edelsteine, und in der That ist aus diesem Schmelzofen bereits ein Körper hervorgegangen, der demnächst in der Lichterzeugung eine hervorragende Rolle spielen wird.

Als Moissan vor Jahresfrist Kalk mit Kohle vermengte und diese Mischung in dem elektrischen Ofen schmolz, erhielt er eine Verbindung von Kohlenstoff und Calcium, welche Calciumcarbid genannt wird. Es ist dies eine schwarze Masse mit deutlichem kristallinischen Bruch, die sich durch eine wichtige Eigenschaft auszeichnet. Kommt das Calciumcarbid in Berührung mit Wasser, so zersetzt es sich sofort, wobei eine starke Gasentwicklung stattfindet. Das Gas, das mit dem Wasser emporsteigt, ist ein Kohlenwasserstoff, den Chemikern längst unter dem Namen Acetylen bekannt und für die lichthungrige Menschheit von der höchsten Bedeutung. Diese wird uns klar werden, wenn wir die Zusammensetzung unseres Leuchtgases etwas näher betrachten. Als wesentliche Bestandtheile desselben sind hervorzuheben: Wasserstoff, Methan oder Sumpfgas, Kohlenoxyd, Aethylen, Propylen und Benzol. Verbrennen wir diese Bestandteile einzeln, so nehmen wir wahr, daß die drei ersten nur eine schwach leuchtende Flamme ergeben, während die Flamme der drei letzteren helles Licht ausströmt; somit sind Aethylen, Propylen und Benzol die eigentlichen Lichtgeber unseres Leuchtgases. Das Acetylen zeichnet sich nun durch ähnliche Eigenschaften aus, wobei es aber an Leuchtkraft alle anderen Kohlenwasserstoffe übertrifft. Seine Flamme leuchtet fünfzehnmal so stark als die unsrer guten Leuchtgassorten, und es ist klar, daß wir dieselben bedeutend verbessern könnten, wenn wir ihnen Acetylen zuführten.

Bis vor kurzem war dies jedoch nicht gut möglich, da man das Calciumcarbid nur in chemischen Laboratorien in geringen Mengen und mit großen Kosten herzustellen vermochte. Neuerdings aber hat Henry Morton in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein Verfahren zur fabrikmäßigen Herstellung von Calciumcarbid erfunden und berechnet, das eine Tonne des Stoffes nur 80 Mark und ein Kubikmeter mit dessen Hilfe erzeugten Acetylens nur 30 Pfennig kosten würde. Der Augenblick ist also gekommen, da die Industrie im Ernst daran denken kann, das leuchtendste aller Gase in den Dienst der Menschheit zu stellen, und da bietet sich eine ganze Reihe von Verwendungsarten des billiger gewordenen Acetylens.

Da zur Gasentwicklung nur das Eintauchen eines Stückes Calciumcarbid in gewöhnliches Wasser erforderlich ist, so wird man kleine Gaserzeugungsapparate in verschiedensten Arten aufstellen können; Privathäuser könnten sich von den großen Gasanstalten unabhängig machen und ihre eigenen Gaserzeuger einrichten. Ja, man kann noch weiter gehen und kleinste Gaserzeugungsapparate in tragbare Lampen verwandeln. Eine solche „Lampe der Zukunft“ bestände z. B. aus einem Behälter, auf dessen Grund sich ein Stück Calciumcarbid befände, über demselben würde ein Wasserballon angebracht werden, aus dem das Wasser langsam auf das Calciumcarbid tropfte, durch eine selbstthätig wirkende Vorrichtung könnte der Wasserzufluß leicht je nach dem Gasdruck in dem Behälter reguliert werden. Das entwickelte Gas würde einen passenden Brenner speisen und ein überaus helles Licht liefern. Solche Lampen würden gewiß leicht zu handhaben sein, man brauchte keinen Docht zu beschneiden, brauchte keine Flecken zu fürchten wie bei Benutzung der Peroleumlampen. Mit einer Büchse Caliumcarbid und der Wasserflasche ausgerüftet, könnte der Junggeselle seine Lampe stets allein in Ordnung halten.

Es ließen sich auch Acetylenkerzen anfertigen, metallene mit Wasser gefüllte Behälter; setzte man in dieselben eine Calciumcarbidstange ein, die nach und nach ins Wasser tauchen würde, dann träte Gasentwicklung ein, das Acetylen würde zum Brenner gelangen und jeden Augenblick verbrannt werden können.

Solche Apparate würden sich namentlich zur Beleuchtung der Eisenbahnwagen eignen.

Wie verlockend aber auch diese Zukunftsaussichten erscheinen mögen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_174.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)