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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

war es, daß Karl sich für seine Zukunftscarriere entschieden hatte und auf die Frage: „Was willst Du werden?“ mit solcher Bestimmtheit antwortete: „Natürlich Husar!“ als wenn alle andern Berufsarten für den denkenden Menschen überhaupt ausgeschlossen wären.

Abgesehen davon aber wurde der Fähnrich in dieser Zeit mehr und mehr zum Mittelpunkt des Interesses im Hause.

Sogar Lottchen blieb, wie wir gesehen haben, nicht frei von der allgemeinen Infektion – sie hatte das unschätzbare, gesellige Talent an sich entdeckt, genau mit dem Tonfall des Fähnrichs zu sagen: „Wenn gnädiges Fräulein gestatten!“ und mußte dies gegen ein Entgelt von zwei Chokoladenplätzchen zu jeder Tageszeit ausüben. Hänschens Kontobuch zeigte infolgedessen ganz auffallende Posten für Chokolade, da die jüngere Schwester sich im wahrsten Sinne des Wortes zum „fressenden Kapital“ umwandelte und ihr Kunststück mit größter Bereitwilligkeit zum Besten gab.

Hänschen selbst war gänzlich in den Gedanken an den Fähnrich versunken – sie trug seine Visitenkarte im Portemonnaie, sie zerrte seine Persönlichkeit bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit ins Gespräch, es gab kein Thema, von den ostafrikanischen Kolonien bis zu den Butterpreisen, das nicht in irgend einer schlangengleichen Wendung von ihr auf den jungen Krieger gebracht worden wäre.

Die Mutter hatte schon eine Konventionalstrafe von zwei Pfennigen auf das Wort „der Fähnrich“ gesetzt und sich dessen Erwähnung wenigstens vor dem Frühstück mit großer Energie verbeten, da sie sich unfähig fühlte, bei nüchternem Magen schon Schwänke aus dem Leben des Fähnrichs anzuhören, oder sich vormachen zu lassen, wie er bei Verbeugungen mit den Absätzen zusammenschlüge.

Wer den wachsenden Einfluß dieses jungen, militärischen Prinzips mit dem größten Aerger sah, das war naturgemäß der Assessor. Jeden Sonntag wurde jetzt getanzt, von ruhigem Gespräche oder gar Lesen war nicht die Rede! An anderen Abenden spielte man statt dessen Schreibspiele oder Kartenorakel.

Der Fähnrich hatte neuerdings die Erlaubnis erhalten, sich auch in der Woche anzusagen. Jedesmal, wenn das der Fall war, erschien auch der Assessor. An diesen Abenden konnte der unwillige Hausfreund sich überzeugen, welche Metamorphose mit dem wilden Backfisch vorgegangen war, den er immer so vom hohen Pferde herab betrachtet und zu erziehen versucht hatte.

Hänschen erschien dann mit einer freiwilligen Häkelarbeit, die allerdings aus dem Nachlaß der seligen Penelope zu stammen schien, da sie öfters wieder aufgezogen werden mußte, und hörte mit Andacht den Erzählungen von den letzten und vorletzten Pferden des Fähnrichs zu, oder sie seufzte mit ihm über das bevorstehende Offiziersexamen, das „niederträchtig schwer“ sein sollte.

An dem heutigen Abend aber hatte der Assessor einmal das Reich allein. Der Fähnrich war durch eine „Strafstunde“ am Erscheinen verhindert und hatte dies soeben in einem seiner zierlichen Briefchen angezeigt – der Assessor stürzte sich wie ein Geier auf dieses Autogramm und durchflog es gierig.

Mit Hochgenuß entdeckte er in dem auch gereifteren Leuten oft ungeahnte Schwierigkeiten bereitenden Wort: „empfehlen!“ ein vergessenes „h“ und machte die ganze Familie darauf aufmerksam: „Der Romanheld schreibt ‚empfehlen‘ ohne h! Da wird er wohl durchs Examen ‚sickern‘!“

Deswegen noch lange nicht!“ meinte Hänschen nachdrücklich, die über die Anforderungen, die das Offiziersexamen an seine Jünger stellt, aufs genaueste unterrichtet schien. „Das ist auch vielleicht neue Orthographie!“

„Die müßte sehr neu sein!“ bemerkte der Assessor ironisch.

„Uebrigens,“ fuhr Hänschen siegreich fort, „schrieb der alte Blücher auch unorthographisch!“

„Das wird wohl die einzige Aehnlichkeit zwischen den beiden sein!“ warf ihr Gegner hin.

Hänschen stand auf.

„Hoffentlich!“ sagte sie würdig. „Der alte Blücher war manchmal sehr unhöflich, und das ist Herr von Soten niemals! – Mama, es ist die höchste Zeit, daß ich nach dem Thee sehe,“ fügte sie mit ruhiger Selbstverständlichkeit hinzu, „Papa wird bald kommen. Karl und Lotte, Ihr könnt mir decken helfen!“

Und damit verließ sie das Zimmer.

„Dieser Fähnrich!“ knirschte der Assessor hinter ihr her, der jetzt mit der Mutter allein blieb.

Die Präsidentin lachte.

„Nein, nein, lassen Sie nur den Fähnrich zufrieden – der Mann ist ja Goldes wert! – Der spart mir eine Schweizer Pension! Hänschen ist jetzt das Bild einer Tochter, wie sie sein soll – sie hilft im Hause – sie frisiert sich täglich dreimal – sie hat sich gestern Glycerin von mir geholt und pflegt ihre Hände – seitdem fange ich an, darum zu beten, daß der Fähnrich sein Offiziersexamen bestehe! Er ist übrigens wirklich ein netter Junge!“ setzte die Mutter boshaft hinzu, „das kann niemand leugnen!“

Der Assessor lachte nervös.

„Nun, meine verehrte, gnädige Frau – wenn er sogar der älteren Generation gefährlich wird“ –

„Hören Sie ’mal!“ unterbrach ihn die Mutter lachend, „Sie sind aber sehr ungalant! Aeltere Generation! Das muß ich sagen, das hätte der Fähnrich sich nie erlaubt! Aeltere Generation!“

Die Mutter that tief gekränkt.

Der Assessor war ganz zerschmettert, nun wurde schon auch ihm von der Mutter der Fähnrich als Muster hingestellt!

Nach einer Weile tiefen Nachsinnens fuhr er auf.

„Aber erlauben Sie mir eine Frage, gnädige Frau – ganz ohne Scherz und unparteiisch – begreifen Sie die Sache? Ich verkehre doch nun seit Jahren bei Ihnen – ich habe Hänschen gewissermaßen aufwachsen sehen und immer den wärmsten Anteil an ihr genommen – und doch habe ich sie nie auch nur im geringsten zu beeinflussen vermocht. Und nun kommt dieser, wie ich zugeben will, hübsche und gewandte, aber doch herzlich unreife Junge und erreicht, ohne sich darum zu bemühen, alles, was Sie und ich vergeblich angestrebt haben. Wie erklären Sie das?“

Die Mutter legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter.

„Das will ich Ihnen sagen, mein lieber Freund,“ entgegnete sie heiter, „Mäuschen fängt man mit Speck und junge Mädchen mit liebenswürdigen Aufmerksamkeiten. Wir beide – Sie und ich – haben den Wildfang immer erzogen – ich aus Beruf und Sie aus Passion, und das ist bekanntermaßen eine undankbare Sache. Der Fähnrich –“

Der Assessor machte eine ungeduldige Bewegung.

„Ja, ja, lassen Sie mich nur ausreden!“ fuhr die Mutter lebhaft fort, „der Fähnrich macht den Backfisch zum ‚gnädigen Fräulein‘ – er stürzt, wenn ihr die Serviette hinunterfällt, wie vom Blitz getroffen, ihr zu Füßen und hebt sie auf – er fliegt mit dem Stuhl herbei, wenn sie ins Zimmer tritt – er tanzt mit ihr – er amüsiert sie – sie fühlt sich dadurch um zwei Stufen höher gehoben und bemüht sich nun, sich dessen würdig zu zeigen. Das ist das ganze Geheimnis!“

Ehe der Assessor noch zustimmen oder entgegnen konnte, erschien die übrige Familie, um sich zum Abendbrot zu versammeln; Hänschen voran mit einer großen Schüssel Heringssalat, die sie balancierend nach dem Theetisch trug.

Der Assessor sprang auf.

„Gestatten Sie mir, Fräulein Hänschen!“ nahm ihr die Schüssel ab und setzte sie auf den Tisch.

Hänschen sah ihn sehr erstaunt an und wurde etwas verlegen: „Was heißt denn das?“ stand deutlich in ihren großen Augen zu lesen. Die Mutter konnte sich beim besten Willen eines flüchtigen Lächelns nicht erwehren. „Der Fähnrich als Erzieher!“ dachte sie bei sich.




Der Zufall, der bisweilen etwas so Persönliches annimmt, daß man sich ihn ganz gut als pfiffigen Bengel vorstellen kann, schien aus irgend welchen Gründen den Assessor in seine Protektion genommen zu haben – er gab ihm wenigstens in allernächster Zeit Gelegenheit, sich im glänzendsten Lichte zu zeigen und, was uneingestanden der Wunsch seines Herzens war, den Fähnrich einmal gänzlich in Schatten zu stellen. Um die darauf bezügliche Begebenheit zu erzählen, muß erst eine grobe Unterlassungssünde wieder gutgemacht werden!

Es ist unverzeihlicherweise bisher in unserer Geschichte noch nicht von einem Mitgliede der präsidentlichen Familie die Rede gewesen, das gleichwohl eine bedeutende Rolle in derselben spielte. Das war der alte Pudel Epps, dem die Sage nacherzählte, daß er vor zehn Jahren weiß gewesen wäre, der aber inzwischen seine Farbe zu einem gelblichen Grau, sein seidenweiches Fell zu einem struppigen Gewirr umgewandelt hatte und bei Prasidents das Gnadenbrot bekam.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_190.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)