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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Er war als treuester Spielgefährte der Kinder aufgewachsen, hatte sein erstes Lebensjahr in Hänschens Puppenwiege geschlafen und genoß in jeder Weise die allgemeinste Liebe und Hochachtung.

Bei Hänschen nahm dies Gefühl sogar einen schwärmerischen Charakter an, sie ging noch jetzt, als fast erwachsenes Mädchen, nie schlafen, ohne Epps ganz besonders Gute Nacht gewünscht zu haben, und beteuerte ihm ihre Liebe in den glühendsten Ausdrücken.

Epps bot, wie hier gleich zugestanden werden soll, für den Unparteiischen nicht viel Reizendes dar. Er hatte immer rote, thränende Augen, sah allem Waschen und Kämmen zum Trotz nie sauber aus und wurde von Hänschen in mildem Verweis wegen dieses kleinen Mangels mit „Du schmutziger Engel!“ angeredet. Außerdem hatte Epps die berechtigte Eigentümlichkeit, sich mit seinem dicken Kopf wohlwollend an Besuchern des Hauses zu reiben und ihnen bei dieser Gelegenheit einige Pudellocken als Andenken zu verehren, was nicht nach jedermanns Geschmack war.

Der Fähnrich und Epps – leider muß es zugestanden werden! – lebten unglücklich miteinander. Herr von Soten hielt begreiflicherweise strengstens auf den Glanz seiner Uniform und ging freundlichen Annäherungen von Epps zuerst scheu aus dem Wege. Als er in der Familie bekannter wurde, nahm er sich sogar die Freiheit, ihn weg zu puffen, und einmal, als Epps direkt nach seinem Straßenspaziergang eine staubige Pfote auf das tadellose Knie des Fähnrichs legte, hatte dieser sich die namenlose Roheit zu schulden kommen lassen, den braven alten Herrn mit: „Weg, Biest!“ anzureden, was Hänschen einen Stich ins Herz gab.

Ja, noch mehr – der Fähnrich hatte als sachverständiger Sportsman seine Ansicht dahin abgegeben, daß es viel besser sei, Epps totzuschießen, da er doch zu nichts mehr tauge, und sich sogar zu dieser traurigen Pflicht gedrängt. „Ich schieße ihn mit dem Tesching tot – das macht ihm gar nichts!“ eine kühne Versicherung, die bei den Zuhörern leiser Ungläubigkeit begegnete.

Dieses herzlose Anerbieten hatte fast vierundzwanzig Stunden lang den Glorienschein um das Haupt des Fähnrichs getrübt, und Hänschen mußte sein Prestige bei sich künstlich dadurch wieder herstellen, daß sie sich versicherte: „Er hätte es ja doch nie übers Herz gebracht!“ was, wie wir fürchten, nicht als unbedingt ausgemacht gelten kann.

Der Assessor hingegen war immer sehr nett gegen Epps! Er versäumte nie, ihn mit „Na komm’, Alter!“ zu sich zu locken, und wenn der Fähnrich, der überhaupt manchmal etwas überlegen that, ihn mit milder Strenge darauf aufmerksam machte: „Die Kröte haart, Herr Assessor – Ihr Rock ist schon ganz grau!“ – dann hatte er unbekümmert erwidert: „Dafür giebt’s ja Kleiderbürsten!“ und durch diesen feinen Zug bei Hänschen entschieden gewonnen.

Er fütterte auch Epps bei Tisch, was „eigentlich“ nie vorkommen sollte, aber uneigentlich jeden Tag auch von den Kindern geschah – kurz, er benahm sich in diesem Fall tadellos – das kann niemand in Abrede stellen!

An einem Sonntagnachmittag, der durch besonders schönes und klares Wetter unwiderstehlich zum Spazierengehen aufforderte, setzte sich die präsidentliche Familie mit ihren beiden Tischgästen, dem Fähnrich und dem Assessor, in Bewegung und wanderte vors Thor hinaus.

Die Eltern an der Spitze des Zuges – Hänschen mit den beiden Herren hinterher, einen Veilchenstrauß im Knopfloch, den ihr diesmal nicht der Fähnrich, sondern der Assessor mit der jetzt bereits um noch eine Stufe höher gestiegenen Anrede „mein gnädiges Fräulein!“ überreicht hatte. Karl und Lotte tobten mit Epps um die Gesellschaft herum. Epps, etwas schnarchend und heiser, aber sehr vergnügt, that alles, was in seinen Kräften stand, um sich als felddienstfähig zu erweisen, er jagte sogar keuchend einem Spatzen nach – allerdings nur ungefähr zwanzig Schritt weit – aber er versuchte es doch!

Der Assessor machte auf diesem Spaziergang die betrübende Erfahrung, daß er doch gegen den Fähnrich nicht aufkomme!

Dieser war heute früh beim Friseur gewesen, strahlte in vollster Pracht eines tadellosen Lockenkopfes und hatte sich bei dieser Gelegenheit durch die Lektüre der neuesten „Fliegenden Blätter“ geistig bereichert, welchen Reichtum er nun jauchzend zum Besten gab und mit Ausdruck vortrug. Hänschen wurde dadurch auf den Gipfel geselliger Heiterkeit versetzt. Auch machte der Fähnrich „Augen“ – eine Kunst, die angeboren, aber nicht erlernt sein will und in der der Assessor, in diesem Punkt stiefmütterlich von der Natur behandelt, selbst dann nicht mit ihm hätte wetteifern können, wenn seine Würde ihm ein solches Verfahren gestattet hätte.

Der Fähnrich, nach der Abkühlung wegen Epps neu in seine Rechte als Coeurkönig eingesetzt, wurde ziemlich übermütig, klagte über die „elende“ Sklaverei der Kriegsschule und renommierte mit seiner zukünftigen Stellung als Sekondelieutenant, in der ihm, nach seiner kühnen Versicherung, „kein Mensch mehr etwas zu sagen hätte!“ – Er that, als sähe er das gutmütige ironische Lächeln nicht, mit dem der Assessor diese Feststellung anhörte, die Hänschen natürlich auf Treu’ und Glauben hinnahm; – sie fand den Fähnrich überhaupt heute wieder einmal „blendend“ – ein Ausdruck, der von ihr auf alles Erfundene und Erschaffene, das ihr gefiel, vom Fähnrich bis zu einer neuen Haarschleife herab, unterschiedslos angewendet wurde.

Unsere Gesellschaft blieb während einiger Minuten am Fluß stehen, der, vom Novemberfrost noch nicht berührt, an dieser Stelle ziemlich wild und schäumend einher jagte und sich wenige Schritte weiter über ein Wehr stürzte.

Wie es zuging, ist nie aufgeklärt worden, aber die Thatsache bleibt bestehen, daß Epps dem Ufer zu nahe kam, auf seinen unsicheren, alten Beinen wankte und plötzlich, zu allgemeinem grenzenlosen Entsetzen, die steile Böschung hinunter und ins Wasser rollte, gegen dessen Kälte und Wildheit er vergeblich unter kläglichem Stöhnen und Pusten ankämpfte. Die drei Kinder schrieen, ohne jede Rücksicht auf Umgebung und Oeffentlichkeit, geradezu herzzerreißend um ihren Epps – namentlich Hänschen löste sich in Thränen auf und konnte nur mit Gewalt am Nachspringen gehindert werden. Der Fähnrich, der seine Extrauniform anhatte, sah mit Teilnahme zu und tröstete: „Beruhigen Sie sich doch, gnädiges Fräulein, es ist am Ende das Beste für ihn!“ – eine Philosophie, die von Hänschen mit erneutem Wehegeschrei und der zerschmetternden Antwort: „Seien Sie doch still!“ erwidert wurde.

Der Assessor hatte ein paar Augenblicke ganz ruhig dabei gestanden und gar nichts gesagt – mit einem Mal warf er Hut und Paletot ab, sprang mit einem Satz in seiner eleganten Dinertoilette mitten in das brausende, novemberkalte Wasser, aus dem er nach wenigen Sekunden mit dem triefenden, fast bewußtlosen Epps wieder emportauchte, und legte ihn, sich selbst wie ein gutmütiger tapferer Pudel schüttelnd, zu den Füßen seiner kleinen Freundin nieder.

Hänschens Gefühle schlugen ihr in diesem Augenblicke fast über dem Kopf zusammen. Dankbarkeit, Rührung und Glückseligkeit nach der ausgestandenen Angst um den armen, alten Hund waren überwältigend, und dem ersten Impuls ihres Kinderherzens folgend, flog sie auf den Assessor zu, ergriff seine Hand und wollte sie küssen. „Danke tausendmal!“ brachte sie nur unter Thränenströmen hervor, während der Assessor in tödlichster Verlegenheit die Hand zurückzog und in seinen Paletot kroch. Die Eltern schalten und bewunderten ihn wegen seiner unvorsichtigen Heldenthat, während die drei Kinder um Epps knieten, ihn rieben und umarmten.

Der Fähnrich, der dieses Mal eine weniger glänzende Rolle gespielt hatte, war inzwischen als praktischer Kriegsmann nach einer Droschke gelaufen und hatte sich dadurch wenigstens die Anerkennung zu erobern gewußt, daß er ein Mensch sei, der „an alles dächte!“

In diese Droschke wurde der triefende Assessor und der triefende Epps samt der Mutter und Hänschen gestopft. Der Assessor mußte ja nach seinem kalten Bade schleunigst nach Hause fahren, und dann kam die große Aufgabe, Epps ins Bett zu bringen und mit Glühwein zu erquicken, da bei seinem ehrwürdigen Alter die Wasserpartie für ihn noch ernstere Folgen haben konnte als für den Assessor.

Dieser versicherte beständig den beiden Damen mit klappernden Zähnen, ihm wäre sehr behaglich warm und sie möchten ums Himmelswillen nicht solches Aufhebens von der ganz natürlichen Sache machen.

„Ich werde den alten Hund doch nicht ertrinken lassen!“ setzte er ärgerlich hinzu und hätte die Genugthuung haben können, daß Hänschen, als sie mit der Mutter nach Hause fuhr, die energische Bemerkung machte: „Er ist doch ein famoser Kerl!“

„Das habe ich ja immer gesagt!“ meinte die Mutter trocken.


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