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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Zuckerfichten steht. Daß die ersten drei Mammutbäume, an denen wir hinaufschauen, eine Kirchturmhöhe haben, wird uns erst nach und nach klar. Aber die etliche zwanzig Fuß dicken Stämme, an denen die ersten Aeste an hundert Fuß über dem Erdboden sitzen, machen doch einen gewaltigen Eindruck. Der Farbenreiz dieser Baumkolosse ist, namentlich wenn die Sonne sie bescheint, ein ganz eigentümlicher. Die sich ganz allmählich nach oben verjüngenden Riesenstämme gleichen gewaltigen rotbraunen Säulen mit grünen Kronen. Die Rinde wirft sich faltenartig um den Stamm.

Fast alle Sequoias führen Namen auf Tafeln, die am Stamm befestigt sind. Aber diese Namen sind oft recht unglücklich gewählt. Wurden die Bäume nach Präsidenten, Staatsmännern, berühmten Generalen und Naturforschern, nach Unionsstaaten etc. benannt, oder führen sie anderweitig bezeichnende Namen, so ist dagegen nichts einzuwenden, denn man könnte sie sonst nicht voneinander unterscheiden; wenn sich aber z. B. drei eitle Dämchen aus Sacramento als die Drei Grazien, und zwar in der recht ansehnlichen Größe von 280 Fuß, vorstellen, ober wenn die Siamesischen Zwillinge und Herr Fred. Gould uns dort ihre Bekanntschaft auf Marmortafeln aufdrängen, so scheint mir dies allen Regeln eines guten Geschmacks zuwider zu sein. Zwischen den drei ersten uns zu Gesicht kommenden Riesenbäumen, welche die Namen U. S. Grant und seiner Generale Sherman und McPheraon führen, steht ein ganz abgestorbener und halb verbrannter oben zugespitzter Baum von etwa 250 Fuß Höhe, der den Namen „Des Teufels Zahnstocher“ (The Devils Toothpick) führt. Dieser Name ist nicht ganz unpassend. Nimmt man die Länge eines gewöhnlichen Zahnstochers zu drei Zoll und die eines ausgewachsenen Mannes zu sechs Fuß an, so würde Se. Satanische Majestät nach diesem Maßstab 6000 Fuß, also ungefähr 1 2/3 Kilometer, groß sein, was auch mit seiner von Milton im „Verlorenen Paradies“ angenommenen Größe so ziemlich stimmt.

Im Weiterschreiten begrüßt uns zunächst eine überaus prächtige Sequoia, die mit Recht den Namen „Der Stolz des Waldes“ führt. Volle 300 Fuß streckt sie den wie mit einem purpurmen Faltenmantel umhüllten mächtigen Stamm in das grüne Dach des Urwaldes empor. Bald darauf gelangen wir nach dem ersten gefallenen Riesenbaum, der mit dem sehr unpassenden Namen „Die Goldgräberhütte“ getauft worden ist. Der 319 Fuß hohe und 21 Fuß dicke Baumkoloß wurde im November 1860 von einem furchtbaren Sturm zu Boden geworfen. Seinen lang hingestreckten Stamm kann man, wie die Stämme aller entwurzelten Mammutbäume im Calavéras-Hain, auf einer Leiter ersteigen. Die vorhin erwähnten „Drei Grazien“ schauen durch das Urwaldsgrün wie drei dicht nebeneinander stehende rotglänzende Riesengestalten nach dem gefallenen Bruder hinüber. Andere rotbraune Säulen schimmern hier und dort zwischen den grünen Büschen und Bäumen hervor. Ganz in unserer Nähe hämmert ein weißköpfiger Specht eifrig an einer mächtigen Fichte, ein Eichhörnchen klettert gewandt an einer Sequoia hinauf und verschwindet bald hoch oben zwischen den grünen Zweigen, eine Drossel läßt im Gebüsch ihr fröhliches Lied ertönen. Ueber uns braust es dumpf. Es ist das Rauschen des Windes in den hohen Wipfeln, das gewöhnlichem Windesrauschen in einem Walde gar nicht ähnlich ist. Es tönt wie das laute Brausen eines Gießbachs.

Bei einem durch Feuer arg zugerichteten uralten Riesenbaum verweilen wir länger. Er führt den Namen „Die Hütte des Pioniers“ und wurde so benannt, weil der gewaltige Stamm ganz durchgebrannt ist und einen offenen weiten Durchgang bildet. Eine Kutsche kann bequem hindurchfahren. Ueber der Decke befindet sich eine schornsteinähnliche Oeffnung, die hoch über uns an der Seite des Baumes ins Freie führt. Wenn der Vollmond nachts durch diesen Riesenbaum scheint, so ist das Bild ein ganz wunderbares, das jedem, der es geschaut hat, unvergeßlich bleiben wird. Weiterhin liegt dicht am Pfad der „Gefallene Monarch“. Nur das untere Dritteil dieses Baumkolosses ist noch vorhanden, das obere Ende ist ganz zerstört. Er muß schon jahrhundertelang auf dem Boden liegen, denn es stehen dort, wo sein oberer Teil hinstürzte, große Fichten, die mindestens hundert Jahre alt sind.

Einer der herrlichsten Bäume, denen wir, weiterwandernd, begegnen, ist der „Abraham Lincoln“. Er hat eine Höhe von 320 Fuß und sieht mit seinem Durchmesser von nur 18 Fuß schlank aus wie eine Fichte. Sein grüner Wipfel ist wunderschön. Nach seiner Schmächtigkeit zu urteilen, steht er im ersten Mannesalter und kann kaum älter als 2000 Jahre sein. Da er freier dasteht als die meisten seiner Brüder, so fällt seine stolze Gestalt ganz besonders ins Auge. Seine bei dem großen Waldbrand vor tausend Jahren angesengte Rinde ist ganz wieder zugewachsen. Eine Ruhebank steht zu seinen Füßen.

Wir gelangen jetzt an die romantischste Stelle im Calavéras-Hain, wo die sogenannte Familiengruppe sich versammelt hat, eine ansehnliche Zahl von Mammutbäumen, unter denen die meisten eine Dicke von 25 bis 30 Fuß und eine Höhe von über 300 Fuß aufzuweisen haben. Von ihnen fällt die verblichene „Mutter des Waldes“, gewöhnlich kurzweg „die Mutter“ genannt, sofort ins Auge. Im Sommer 1854 wurde die Rinde von diesem Baum abgelöst, um dieselbe in den östlichen Staaten zu zeigen – ein empörender Vandalismus, der diesen Riesenbaum, einen der schönsten im Calavéras-Hain, dem Tode weihte. Der Rest seiner Rinde, die durchschnittlich 11 Zoll und stellenweise zwei Fuß stark war, fiel nach und nach vom oberen Stamm und von den mächtigen Aesten von selbst ab. Jetzt schaut der weißlich-graue Riesenstamm mit den himmelhohen gespreizten nackten Aesten wie dräuend in den grünen Wald hinein und gewährt einen fast unheimlichen Anblick. Beim Mondschein sieht die ermordete „Mutter des Waldes“ geradezu gespensterhaft aus. Mit der Rinde hatte der Prachtbaum über der Wurzel einen Umfang von 90 Fuß; jetzt hat er dort nur noch einen Umfang von 84 Fuß. 20 Fuß vom Boden mißt der nackte Stamm 69 Fuß, 70 Fuß vom Boden 43 ½ Fuß, 116 Fuß vom Boden 39 ½ Fuß im Umfang. Die Höhe des Baumes beträgt 321 Fuß. Der erste Ast befindet sich 137 Fuß über dem Boden.

Nicht sehr weit von der „Mutter“ liegt der „Vater des Waldes“, eine Riesenruine, auf dem Boden – wohl die grüßte Sequoia in Kalifornien! Sie muß schon vor Jahrhunderten niedergestürzt sein. Die kolossale Wurzel, von der die Enden abgebrochen sind, ragt immer noch 28 Fuß, so hoch wie ein einstöckiges Haus, über dem Boden empor. Als der „Vater des Waldes“ noch in Lebensfülle dastand, war er ungefähr 450 Fuß hoch, mit einem Durchmesser des Stammes von 40 Fuß, und es wird sein Alter, wie schon erwähnt wurde, auf annähernd 5000 Jahre geschätzt. Der Atem steht einem fast still beim Aussprechen dieser Alterszahl, die bis über die biblische Sintflut zurückreicht. Als der Baumkoloß niederstürzte, riß er einen anderen Riesenbaum um und schlug dann gegen den 325 Fuß hohen „Alten Herkules“ (dieser wurde 1853 durch einen Sturm entwurzelt), wobei sein oberer Teil abbrach und weit umhergeschleudert wurde. Seine Länge kann man bis auf 365 Fuß verfolgen, doch fehlt von seiner Krone jegliche Spur. Daß aber sein Wipfel noch ungefähr 80 Fuß weiter reichte, läßt sich nach der Verjüngung der Stämme anderer Bäume ziemlich genau feststellen. An der Stelle, wo der „Vater des Waldes“ den „Alten Herkules“ traf – 300 Fuß von der ungeheuren Wurzel – hat jener noch einen Umfang von 16 Fuß. Ein bedeutender Teil von seinem Innern wurde durch Feuer zerstört und bildet eine seitwärts an zwei Stellen offene Höhlung, durch die man hindurchreiten kann. Diese Höhlung ist 82 Fuß lang und 9 bis 22 Fuß hoch. 200 Fuß von der Wurzel befindet sich ein großes Loch im Stamm, das man vom Innern des Riesenbaumes vermittelst einer Leiter erreicht und durch welches man hindurchsteigen kann. Hier saß der niedrigste baumstarke Ast. Den gefallenen Stamm besteigt man auf einer Leiter von 16 Stufen. Oben auf demselben hat man, mehr noch als von unten, einen überwältigenden Eindruck von der Riesengröße dieser uralten Baumruine.

Der Wald ist in der Nähe dieses gefallenen Baumkolosses von ergreifender Erhabenheit. Zahlreicher als sonstwo erheben sich hier ringsum die rotbraunen Riesensäulen aus dem frischen Grün, die „Mutter“ blickt geisterhaft daraus hervor und mahnt mit dem hingestürzten „Vater des Urwaldes“ und seinem halb zertrümmerten Genossen, dem „Alten Herkules“, an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Der letztgenannte Baum stand schräg da wie der Turm zu Pisa, ehe der Sturm ihn entwurzelte. Wahrscheinlich wurde er durch den „Vater des Waldes“ etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, als dieser gegen ihn schlug. Einige benachbarte Riesenbäume sind durch Feuer grausam verstümmelt worden, während andere, z. B. der 365 Fuß hohe „Starr King“ (nach einem berühmten kalifornischen Kanzelredner benannt), in stolzer Urkraft dastehen und nur wenige Brandschäden zeigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_230.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)