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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

steigern, wie etwa ein Glas voller wird, je mehr man hineingießt – diese Ansicht gehört in die Gattung jener ästhetischen Trugschlüsse, denen wir im weiteren Verlauf unserer Betrachtung noch mehrmals begegnen werden. „Viel hilft viel,“ meint das Volk auch beim Anwenden medizinischer Heilmittel. Aber just das Gegenteil ist der Fall. Wenn die „Schlankheit“ den Eindruck hervorruft, als existiere sie nur auf Kosten der inneren Organe, oder als sei sie nur durch gewaltsame Erpressung künstlich hergestellt, dann wirkt sie auf jeden gesund fühlenden Mann abstoßend. Dabei ist die Wespentaille nicht einmal ein besonderer Vorzug unserer Civilisation, wie sich die straffgeschnürten Salondamen dies wohl einreden möchten. Ganz rohe Völkerschaften – z. B. die Urbewohner von Java – schätzen die ans Unschöne streifende Schlankheit ebenso eifrig. Ein javanischer Minnegesang, den uns die Schriftstellerin Talvj verdeutscht hat, feiert wenigstens echt europäisch die Taille, die so dünn ist, als müsse sie jeden Augenblick abbrechen.

Dieselbe mißverständliche Uebertreibung erstreckt sich auch auf die Füße. Der Fuß des weiblichen Modeideals bleibt an Größe und Umfang erheblich hinter dem Fuß des wirklichen Schönheitsideals zurück, die Kleinheit wird ins Unschöne übertrieben – eine Erscheinung, die gleichfalls ihr Gegenbild im asiatischen Osten, bei den halbcivilisierten Chinesen, findet, wo der weibliche Fuß künstlich in seiner Entwicklung gehemmt und geradezu in barbarischer Weise verunstaltet wird.

Die Entstehungsgeschichte des europäischen Kleinheitsideals deutet uns Riehl in seinem vortrefflichen Werk „Die Familie“ an. Er schreibt:

„Während bei dem gemeinen Volke das Weib die reichliche Hälfte von der harten körperlichen Arbeit des Mannes auf seine Schultern nimmt, wird bei den sogenannten feinen Leuten die einfachste Kraftäußerung und Leibesübung für unweiblich angesehen. Eine Dame, die auch nur einen ehrlichen Tagemarsch rüstig zu Fuß machen kann, gilt für ein Mannweib. Schon bei den höfischen Frauen des Mittelalters gehörte es zu den ersten Erfordernissen des Anstandes, möglichst langsam und mit ganz kleinen Schrittchen zu gehen, wodurch man bekunden wollte, daß nicht etwa eine geschäftliche Nötigung, sondern lediglich die freie Laune eine Dame von Welt zu dem plebejischen Akte des Gehens treiben dürfe. Hiermit hängt es zusammen, daß nun das lange bis auf die Füße herabfallende Hof- und Paradekleid, das jede freie und rasche Bewegung hemmt, allmählich auch das Werktagskleid der vornehmen Dame und dann leider auch der Bürgersfrau wurde.“

Dem langsamen, gleichsam nur trippelnden Gang dieser übervornehmen und überzarten Geschöpfe entsprechen dann auch die Gehwerkzeuge: das Scheinideal ist gefunden, und „Füße so klein und nach dem Reihen hinauf so widernatürlich zusammengedrückt, daß ein ordentlicher Körper kaum darauf stehen, geschweige denn gehen kann, gelten für eine Hauptschönheit des Weibes. Aphrodite zeigt uns auf den Bildsäulen der Griechen und Römer noch so kräftig ausgebildete und gut proportionierte Füße, daß eine moderne Dame sich ihrer schämen würde.“

Nicht ganz so tollkühn wie bezüglich des Fußes übertreibt das Modeideal bezüglich der Hand. Immerhin giebt es Damen genug, die es für ganz besonders schön halten, bei sonst normalen Körperverhältnissen eine Kinderhand zu besitzen. Auch die Kleinheit des Mundes wird vielfach über die Grenze der wirklichen Schönheit hinaus als ein Vorzug gepriesen, weil ein auffallend großer Mund in der That häßlich ist. Der große Mund kennzeichnet unter gewissen Verhältnissen das Uebergewicht des Sinnlichen über das Geistige; er kann sogar Brutalität verraten. Hieraus folgt jedoch keineswegs, daß die winzigen Mäulchen moderner Romanheldinnen dem echten Schönheitsideal näher kommen; denn so ein Miniaturmund, der sich mit einem Pfennigstückchen verdecken läßt – („mit ’me Kreizer“, sagte man früher in Süddeutschland) – flößt dem gesunden Instinkte nicht nur Bedenken ein im Punkte der Ernährungsfrage, er deutet auch seelische Züge an, die nicht gefallen können: Schwäche, Geziertheit, wenn nicht gar Heuchelei.

Das Modeideal übertreibt vorwiegend in der Richtung der Kleinheit. Doch findet sich auch der entgegengesetzte Fall. So z. B. werden die Augen nicht nur von der irregeleiteten Phantasie der Frauen selbst, sondern auch von gewissen modernen Künstlern bis zu einer geradezu krankhaften Größe emporidealisiert. So unbestreitbar es ist, daß Augen, die unter dem Mittelmaße zurückbleiben, dem echten Schönheitsideal stark widersprechen, so klar ist es anderseits, daß jedes Zuviel ganz den nämlichen Widerspruch im Gefolge hat, wenn auch der Eindruck an sich ein wesentlich anderer ist.

Mit den zuerst hier erwähnten Irrtümern hängen gewisse Erscheinungen der europäischen Frauentracht aufs engste zusammen; denn die Kleidermode hat das Bestreben, die vermeintlichen Vorzüge des Scheinideals möglichst zur Geltung zu bringen.

Die irrtümliche Schätzung der Wespentaille hat den Schnürleib hervorgebracht; die irrtümliche Schätzung des Liliputfußes die Stöckelschuhe.

In solchen Zeitläuften, wo man die unverkünstelte, echte Normalgestalt schöner fand als die Wespentaille, war auch die Kleidung freier und lockerer. So im ganzen hellenischen und lateinischen Altertum, so bei den Urgermanen bis in die christliche Aera hinein, so nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, der die Steifheit der spanischen Frauentracht aus Deutschland hinwegfegte und eine Kleidung in Schwang setzte, wie sie seit langen Jahrhunderten kaum naturgemäßer und zweckentsprechender üblich gewesen war.

Aber es scheint, daß sich die europäische Frauenwelt ohne die Ausschreitungen des falschen Ideals auf die Dauer nicht wohl fühlt. Nach kurzer Frist begann schon der Rückschlag, bis dann im 18. Jahrhundert die Rokokotracht den Gipfel der Widernatürlichkeit und somit der Unschönheit bezeichnet. Seit dieser schauderhaften Epoche hat nur die Mode der sechziger Jahre unsres Jahrhunderts mit ihrer unglaublichen Krinoline ähnliche Mißgestalten zuwege gebracht, während die edle, kleidsame, der Antike sich nähernde Prinzeßrobe zu Anfang der achtziger Jahre vorübergehend den Eindruck erweckte, als ob das wirkliche Schönheitsideal sich anschicke, das Scheinideal aus dem Felde zu schlagen.

Wie man in Mitteleuropa die Schlankheit durch Uebertreibung verdorben hat und bei der unschönen Wespentaille und ihren Trachtfolgen angelangt ist, so übertreibt das Modeideal anderer Nationen die Fülle. „Recht quammig, quappig“ – so heißt es bei Goethe von dem Modeideal der Türken. Vollblühende Formen sind schön, weil sie zweckmäßig sind. Im Orient, wo der normale Frauentypus mehr als in Mitteleuropa zur Fülle neigt, wird nun die Vorliebe für diesen Zug bis zur Verherrlichung des Unschönen gesteigert. Ja, kürzlich war in den Zeitungen von dem sonderbaren Geschmack eines Negerfürsten zu lesen, der die Frauen seines Serails geradezu „nudeln“ läßt, um Ergebnisse zu zeitigen, die man in Deutschland höchstens bei Straßburger Gänsen angenehm findet.

Ganz der nämliche Unterschied des Modeideals bezüglich der Korpulenz trennte im 16. und 17. Jahrhundert die Italienerin von der Spanierin. Montaigne bereits tadelt das Streben der Italienerin, möglichst „stark“ zu erscheinen, späterhin spielt dann das „blühende Fett“ eine bedeutsame Rolle. Die Spanierinnen dagegen liebten äußerste Magerkeit. Um das Modeideal künstlich heranzuzüchten, hintertrieb man die naturgemäße Entwicklung des Körpers von Jugend auf, preßte den Brustkasten der halbwüchsigen Mädchen in schwere bleierne Platten ein und vermied jede fettbildende Nahrung. Die Gräfin d’Aulnoy versichert, der Anblick einer Spanierin jener Zeit sei geradezu scheußlich gewesen: Kanten, Ecken und Höhlen statt der natürlichen Rundungen, Präparate für das Studium der Knochenlehre!

Diese Verirrung steht offenbar nicht höher als die künstliche Ohrlappenverlängerung gewisser Australneger oder die schnöde Schwarzfärbung, die man dem von Natur so schönen Gebiß der malayischen Mädchen zufügt.

Weiter oben bereits wurde bemerkt, daß jede Rasse naturgemäß ihr eigenes weibliches Schönheitsideal besitzt, daher denn der Kongoneger, der Ostasiate, der Eskimo etc. sich im Punkte der Schönheitsanschauung just so weit von dem Kaukasier entfernen wie im Punkte des Rassentypus. Angesichts dieser selbstverständlichen Thatsache bleibt es merkwürdig, daß unser germanisches Schönheitsideal das Vorrecht zu haben scheint, als das Schönheitsideal im höchsten Sinne auch von solchen Völkern betrachtet zu werden, die uns zwar nahe verwandt sind, aber doch in gewissen Einzelheiten des Typus nicht ganz unwesentlich von uns abweichen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_238.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)