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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


„Ich habe durchaus keinen Kummer!“ stößt sie unter Thränen hervor.

„Wenn Sie nun einen Bruder hätten, Fräulein von Kronen – denken Sie doch, Sie hätten einen und er säße – er sitzt hier neben Ihnen, würden Sie sich dem gegenüber auch nicht aussprechen?“

„Dann würde ich ihm sagen: ‚Mein guter Junge, Du kannst mir auch nicht helfen!‘“ ruft sie aufspringend.

„Ditscha!“ flüstert er dreist und hält die Falten ihres Kleides, „Ditscha, gehen Sie nicht fort, ich weiß nicht, wann ich Sie wiedersehe! Darf ich Ihnen etwas erzählen? Seit neulich, Ditscha – ich bin ein wilder Schlingel gewesen, aber seit neulich – ach, Ditscha – –“ Er ist vor ihr niedergesunken auf die nasse Erde und preßt ihr Kleid gegen seine Augen. „Sie könnten mir helfen!“ murmelt er.

Sie ist zitternd auf die Bank zurückgesunken, das Tuch ist ihr vom Kopf geglitten und der Herbstnebel legt sich schwer und naß auf ihr Haar. Sie sieht nichts mehr, sie hört nur seine gestammelten Worte: wild und schlecht war er, aber sie kann helfen, ihn gut machen, denn mit ihrem Anblick ist ihm eine bessere, eine heiligere Welt aufgegangen! Ob sie denn nicht glaubt an eine Liehe auf den ersten Blick? Allabendlich ist er hier auf dem Waldwege gewesen und hat stundenlang zu ihren Fenstern hinübergesehen – ob sie es nie geahnt hat? – Ob sie ihm helfen will, ein guter Mensch zu werden? Auf den Knieen wird er ihr danken lebenslang und – will sie es nicht, dann, dann komme, was da wolle!

Dieser ganze Sturm überfällt sie so unvorbereitet, trifft ihre dürstende Seele wie erquickender Tau. Sie kann einem Menschen etwas sein? Sie kann jemand helfen, den rechten Weg zu finden? Ein Schauer rieselt über ihren Körper, sie faltet die Hände und fragt: „Ich? Ich? O, was kann ich denn thun?“

„Mir die Hoffnung lassen, Sie zu sehen! Durch die Duldung meiner Neigung mir helfen, die Ihre zu erringen! Mir zu erlauben bei allem, was ich thue, an Sie zu denken, mich ein wenig, ein wenig, Ditscha, liebe Ditscha, lieb zu haben!“

Sie kann ihr Herz klopfen hören, so schlägt es in der Brust. Ein Chaos widersprechender Stimmen wirbelt in ihrer Seele, einen Augenblick nur, dann ist sie entschlossen.

„Ditscha, liebe mich!“ bittet er.

„Ja!“ sagt sie kindlich, „ich will Sie liebhaben.“

Dich! Ditscha – Dich!“

„Ich will Dich liebhaben,“ wiederholt sie feierlich, obgleich sie nicht weiß, wie sie es anfangen soll, „aber Du mußt auch wirklich gut werden,“ setzt sie hinzu.

„O, so gut!“ flüstert er und sitzt neben ihr auf der Bank, „so gut! Ich bin es schon jetzt – neben Dir kann man nicht anders sein als gut!“ Und er will sie stürmisch in die Arme schließen.

Da springt sie auf. „Nein! Nein!“ wehrt sie.

„Aber, Ditscha!“ Er ist ganz betroffen. „Du hast mich nicht lieb –!“

„Doch – ich will – ich werde – aber Sie – – Du mußt zuerst mit Onkel reden.“

„Ja, natürlich!“ sagt er rasch, „ich werde zu ihm gehen – morgen – natürlich –“

„Ich werde ihn vorbereiten,“ erklärt Ditscha und will noch einen Schritt zurück, denn er hat nach ihrer Hand gegriffen und preßt die zitternde an seine Lippen und Augen. „Ditscha, Sophie von Kronen – meine Braut!“ flüstert er leidenschaftlich und versucht abermals, sie an sich zu ziehen.

Da ist sie zur Seite entwichen und gleitet wie ein Schatten die Böschung hinunter.

„Ditscha!“ ruft er, aber schon hat die Dunkelheit sie verschlungen. Er tastet vergebens auf und ab und murmelt eine Verwünschung, und derweil ist sie den Weg zurückgelaufen den sie gekommen, und steht nun innerhalb des Parkes an einen Baum gelehnt und schluchzt zum Herzbrechen.

Was hat sie gethan! Was hat sie gethan? Wie will sie es anfangen, ihn liebzuhaben? Sie kennt ihn kaum, ja, sie fühlt, daß er ihr namenlos gleichgültig ist. – Sie hat es sich anders vorgestellt, Braut zu werden – Braut!

Was soll sie nun beginnen? Droben wartet Tante Tine, und wenn sie nicht bald kommt, wird Hanne sie suchen, und dazu ist gleich Abendbrotszeit! Ob sie noch vorher mit dem Onkel spricht? Oder ob sie das dritte Glas Grog abwartet nach Tische? Das letztere scheint ihr das Gescheiteste zu sein, und sie geht langsam ins Haus, die Treppe hinauf und klopft an Fräulein Klementinens Thür.

(Fortsetzung folgt.)


Torquato Tasso.

Gestorben am 25. April 1595.
Von Richard Schröder.


Wem es je vergönnt gewesen ist, an lauem Frühlingsabende die lärmvollen Gassen Neapels zu durchschlendern, wer unter den Bogengängen Bolognas oder auf den engen Plätzen und Brücken Venedigs Gelegenheit gehabt hat, das Volksleben der Italiener zu studieren, das bei aller Fremdartigkeit uns Nordländer immer von neuem so ungemein sympathisch anmutet, der wird sich gewiß auch einmal in den dichten Kreis von Männern, Frauen und Kindern hineingedrängt haben, welche einen jener volkstümlichen italienischen Erzähler umlagern, die an einer Straßenecke unter freiem Himmel oder auch unter einem weiten Thorwege mit weithin schallender Stimme und unglaublichen Gestikulationen die volkstümlichsten Stellen ihrer Lieblingsdichter vortragen. Oft sind es moderne Romanzen und ergreifende Liebesklagen, oft auch Berichte schauriger, bluttriefender Begebenheiten aus dem Leben eines kürzlich eingefangenen berühmten Banditen, daneben aber auch die schönsten Episoden aus den mittelalterlichen Heldenliedern, die dies dankbare Publikum, das mit gespanntester Aufmerksamkeit an den Lippen des Erzählers hängt, zu jubelnder Begeisterung entflammen oder zu stillen Thränen rühren. Neuerdings zwar verschwindet die typische Figur dieses „Raccontatore“ nach und nach aus den verkehrsreichen Centren der großen Städte, indessen begegnet man ihr auch heute noch häufig genug in den abgelegeneren Vorstädten und vor allem auf Dörfern und in den von der großen Verkehrsstraße abseits liegenden kleinen Landstädtchen. Was wir in solch einem weltvergessenen Oertchen der Abruzzen oder Campaniens zu hören bekommen, das sind natürlich in den wenigsten Fällen die Laute der toskanischen Schriftsprache, in deren Gewand Ariost und Tasso ihre unsterblichen Gesänge gekleidet haben, zumeist sind diese Dichtungen mit unabsichtlichen oder selbst absichtlichen Veränderungen durch mündliche Tradition in den Dialekt der Gegend übertragen und so dem Verständnis und dem Empfinden des einfachen Mannes näher gerückt. Heiße Thränen kann man bei solchem Vortrage fließen sehen, wenn der Deklamator von den Schicksalen Chlorindens und Tankreds, Sophronias und Olindos, Armidas und Rinaldos berichtet, denn unter all den hochgefeierten Sängern der Vergangenheit besitzt jenseit der Alpen noch heute keiner, Alessandro Manzoni allein vielleicht ausgenommen, auch nur annähernd die gleiche Volkstümlichkeit wie der Dichter des „Befreiten Jerusalem“, Torquato Tasso, der wie kaum ein zweiter seiner Zeitgenossen es verstanden hat, nicht allein für die Gelehrten und Kenner, sondern für die ganze Nation zu dichten.

Was indessen diesen Dichternamen so allgemein bekannt gemacht, ihm in der ganzen litterarischen Welt so tiefe Sympathien erworben hat, das läßt sich kaum allein durch die Vorzüge erklären, die den Werken Tassos eigen sind; auch die ergreifenden Schicksale, denen sein Leben unterworfen war, und die selbst wieder großen Geistern aller Nationen, ich nenne unter vielen nur Goethe, Byron, Leopardi, den Stoff zu unsterblichen Schöpfungen gegeben haben, tragen nicht wenig dazu bei. Allerdings ist der Tasso, wie ihn heute die meisten Deutschen kennen und lieben, keineswegs der historische Tasso, dessen verdüstertes Gemüt vor nun genau drei Jahrhunderten in dem einsamen Klostergärtchen von San Onofrio in Rom endlich im Tode die Ruhe fand, um welche der Dichter in seinem wechselvollen Leben vergeblich gerungen hatte, sondern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_247.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)