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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


nickte Georg zu - „Wie geht's? Wie geht's?“ Dann schienen die langsamen Blicke des jungen Offiziers die Antwort eher in den Zügen des Doktors zu suchen, als daß er sie selbst geben konnte, und leise zuckte er mit den Achseln. Aber der Arzt hatte auch keine Antwort erwartet. Er fühlte nach dem Pulse, betastete die Haut und entblößte endlich die Brust von dem Verbande. „Hier draußen sieht es gar nicht übel aus!“ Und zur Schwester Brigitte gewandt: „So, bitte, wollen Sie mir nun helfen; wir werden ihn aufstützen!“

Mit starken Armen und geübtem Griff nahm Schwester Brigitte Georg um die Schultern und stützte ihn. Sein müder Kopf lehnte an ihrer Brust, und der Arzt tastete und horchte ab.

„Gut - danke!“ Er gab dann noch eine oder die andere Weisung und ging. Die Schwester richtete die Kissen zurecht und die Decke, stellte die Lampe hinter den Schirm auf den entfernteren Tisch und neigte sich zu Georg herab.

„Wünschen Sie noch etwas?“

Er schüttelte leise den Kopf und ein schwaches, dankbares Lächeln glitt über seine Wangen. In seinen Augen lag etwas Gutmütiges, Hilfloses, beinahe Kindliches, das sie rührte.

„Nein - danke, danke!“

Er streckte die Hand ein wenig auf der Decke aus. Sie war schmal und fleischlos, und als Schwester Brigitte sie flüchtig ergriff, lagen die fieberischen Finger regungslos in der ihren.

„Nun werden Sie schlafen. Ich bin immer hier. Gute Nacht denn!“

Später hörte sie in dem großen Nebenzimmer den leisen Schritt der alten Frau.

„Wie geht es?“

„Es scheint, nicht schlechter.“

„Der arme Junge! - Mir schien der Doktor nicht recht zufrieden. Du lieber Gott! Welch bittere Zeit mußten wir noch erleben! Auch Sie müssen die Drangsale schwer tragen. Ich hörte ja - wie lange schon hatten Sie keine Rast! Sind Sie recht müde, mein Kind?“

„Nein,“ sagte Schwester Brigitte, „wir sind nie müde!“

„Frau Stübel kommt nach Mitternacht. Sie wird Sie auf einige Stunden ablösen. Sie wird Ihnen auch das Zimmer zeigen, wo Sie wenigstens die kurze Frist ausruhen können.“

Und dann setzte sich Schwester Brigitte in den großen altväterischen Lehnstuhl am Fenster, und alles schwieg. Sie hörte nur den leisen, unregelmäßigen Atemzug des Kranken oder eine unruhige Bewegung, die er auf den Kissen machte. Sofort stand sie geräuschlos an seiner Seite. Ist er wach? - Hat er Schmerzen - irgend einen Wunsch? Aber seine Augen waren geschlossen, er schien zu schlafen.

Und alles schwieg. Sie hörte nur draußen, im Garten, das leise Rauschen des Nachtwindes in den Baumwipfeln und hin und wieder den abgebrochenen Ruf eines Vögelchens, das irgendwo in den Zweigen nicht zur Ruhe kommen konnte. Es war so still - so still, als könnte man den eigenen Herzschlag vernehmen und die Schwingen der Gedanken, die durch die Seele flattern.

Nach dem unsteten Wanderleben der letzten Wochen umgab die Ruhe des Landhauses Schwester Brigitte doch fast mit einem Gefühle der Rast. Und in der Stille spannen sich ihre Gedanken zu verschlungenen Fäden aus. Eine Reihe grell erleuchteter Bilder, aus dem Lager, vom Marsche, vom Schlachtfeld, aus den Lazaretten, zog an ihr vorüber, wie etwas Ueberstandenes. Und weit hinter dieser Zeit knüpften sich die Fäden an ihre Erinnerung.

Die Gestalt ihres alten Vaters mengte sich darein. Sie sah sein scharfgeschnittenes, aber gutmütiges braunes Soldatengesicht vor sich, mit den hellblauen Augen, die so herzlich und frisch unter den buschigen Brauen hervorblitzten. Sie erinnerte sich der Sommerabende in dem Hausgärtchen der Heimat. Dort stand ein großer Kirschbaum, unter dem sie oft gesessen, der Vater und der Bruder, der jetzt bei seinem Regimente war, drüben an der Grenze. Ein bißchen scheu verweilte sie bei der Vergangenheit, die ja ihr Herz nicht mehr kennen sollte.

Vom Nachthimmel, auf dem langsam ein Stern nach dem andern aufgetaucht war, wandte sie ihren Blick ins Zimmer zurück. Sie nahm ihr Andachtsbuch vom Tische und beugte sich über die vergilbten, abgegriffenen Blätter. -

Als Georg am nächsten Morgen erwachte, wiederholte sich der neue und fremde Eindruck, den er gestern bei der Ankunft der Schwester gehabt. Nur erschien sie ihm größer, bleicher und ernster. Hatte er getränmt, daß sie, an seinem Bette stehend, sich zu ihm herabgebeugt, ihre Hand auf die seine gelegt und lächelnd ihm ins Antlitz geschaut habe?

Um Schwester Brigittens Augen lag ein bläulicher Schatten, als hätte ihr die erste Nacht im fremden Hause wenig Ruhe gebracht. Sie sah müde aus, und zwischen ihren Brauen zog eine feine Falte in ihre Stirne und gab ihr einen verschlossenen, fast strengen Ausdruck. Ihr sorgliches Wesen war indessen voll Beruhigung für den Kranken, der fieberisch und mit Unbehagen erwacht war. Mehrmals, wenn er den Arm gegen die verwundete Seite preßte und in einem plötzlichen Anfalle des Schmerzes die Augen schloß, war es wie eine Ermutigung, wenn er dann aufblickend zu ihr hinübersah. Denn keiner dieser Augenblicke entging ihr. Und dann lag in der kaum merklichen Gebärde, mit der sie ihm zunickte, ein ungesprochenes, tröstliches Wort.

Die Phantasien des Kranken hefteten sich an ihre Erscheinung. Er hatte sie so oft gesehen, diese stillen Frauengestalten. Sind sie Menschen wie die andern? - Sind es Wesen von Fleisch und Blut, mit Wünschen und Hoffnungen wie die andern? - Sind sie von dieser Welt, oder herabgestiegen aus dem Ewigen? - Und sind sie alle nicht ein Einziges - ein Gedanke, eine Idee, die menschliche Gestalt angenommen? - die Idee des Trostes, der Barmherzigkeit, des gestillten Schmerzes, die fleischgewordene Idee göttlicher Liebe; Abgesandte der Ewigkeit, Himmelsboten und Engel?

Vor seinen fieberheißen Blicken zerflossen die Umrisse ihrer Gestalt zu einer phantastischen Erscheinung. Ihr schwarzes Gewand wurde weiß und breitete sich aus zu einem weiten Mantel, der in reichen Falten von ihren Schultern wallte. Der weiche Schleier floß durchsichtig und glänzend, wie von Sonnenstrahlen gewoben, über ihr Haupt und von ihrem Nacken herab. Ihr schönes bleiches Gesicht war ruhig aufwärts gerichtet, und ihre Augen sahen mit übernatürlichem Glanze in den Himmel hinauf. Und zum Himmel streckte sie den schlanken Arm empor, von mattem Weiß, wie der reinste Alabaster. -

Schwester Brigitte legte leise die Hand auf seine Stirn.

„Sie sehen zu viel Licht,“ sagte sie. Dann ging sie und ließ die grünen Vorhänge an den Fenstern zur Hälfte nieder.

„Wir müssen Medizin nehmen jetzt.“

Georg nickte.

Sie goß das Medikament in den Löffel, trat zu ihm und stützte seinen Nacken mit ihrem Arm. Im unruhigen Bedürfnis, sich zu bewegen, setzte er sich halb auf, und während sie den Löffel an seine trockenen Lippen führte, neigte er den Kopf matt auf die Seite und lehnte ihn an ihre Schulter.

Nun sie ihn langsam wieder auf die Kissen niederließ, fiel ihr Blick auf die Wand gegenüber. Der Lichtstreif aus dem halbgeschlossenen Fenster hatte ihren Schatten hingeworfen. Dort ruhten ihre Köpfe aneinander und lösten sich nun wie aus einer Umarmung.

Als wollte sie eine Unruhe fortwischen, strich Schwester Brigitte mit der Hand über ihre Schläfe. Und vor Georgs leichtem Schlummer verschwanden die irrenden Bilder seiner Seele. -

Der Zufall stellte Schwester Brigitte ein Bild vor Augen, das die Vergangenheit verdeckt hatte, und das in ihrer Erinnerung verblaßt war wie die Empfindung eines fernen Traumes.

Aber als habe der Traum ein Leben für sich gehabt und ein Anrecht an ihr behalten, das stärker als die Kraft ihres Herzens war, zog er noch einmal an ihr vorüber, und das bleiche Bild nahm Leben und Farbe an.

Der kranke Fremdling war dem Freunde, von dem sie ihr Gedächtnis ewig geschieden meinte, so ähnlich, daß jeder Zug ihr mit grausamer Wirklichkeit jenen lebendig wieder vor Augen stellte.

Umsonst lehnte sie sich auf dagegen.

Die Thränen, die sie in der ersten Nacht geweint, waren wie neue Flut, die in das alte Strombett der Erinnerung fließt, daß die Wellen wieder rauschen unter den Zweigen, in deren Schatten wir geruht, am Wiesenrand, wo die Blümlein nicken, und durchs Thal, in dem die Sonne glitzert.

Sie konnte ihren Lauf nicht hemmen, die Stimme nicht zum Schweigen bringen, die in ihr laut geworden, und die alle die entrückten Stunden wieder aufrief und von der Vergangenheit sprach, mit ihrer Lust und ihrem Leid.

In ihrem Andachtsbuche stand der Satz: „Heilig ist die Hingabe Deines Lebens. Und thust Du etwas dawider, sei es auch mit dem flüchtigsten Gedanken Deiner Seele, so ist es Sünde!“

Die Worte schlugen auf ihr Herz wie die Hand des reuigen

Beters. - Aber sie konnten ihr doch nicht helfen gegen die Flut

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_270.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2018)