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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Ach ja,“ seufzt die Pastorin, „o die heutige Jugend! Weber, Du selbst hast Dich gefreut, wenn wir tanzten, weißt noch?“

„Statt dessen wird heute gespielt und getrunken,“ erklärt der Oberförster, „und zum Schluß des Balles saß der tanzfaule Kerl, geladen wie eine Haubitze, in der Gaststube und wußte nicht mehr, was er redete, konnte kaum noch die Zunge heben.“

Ditscha ist es, als stehe ihr das Herz still.

„Na, die beiden andern haben ihn dann mit Hilfe des Hausknechts in die Kutsche geladen, und der alte Calwerwisch mag nicht schlecht geschimpft haben.“

„Wie heißt denn der Gentleman?“ fragt Onkel Jochen laut.

„Ich weiß nicht,“ ist die Antwort. „Timpe war’s nicht und Reeden auch nicht, und drei hat Calwerwisch ja man; der neuste war’s.“

Aus Ditschas Gesicht ist alle Farbe gewichen. Das ist das Resultat ihrer neulichen Unterredung mit Hans, die Verzweiflung treibt ihn zu solchen Ausschreitungen, und wenn er zu Grunde geht, hat sie die Schuld. Sie kommt sich in diesem Augenblick vor wie das pflichtvergessenste Geschöpf in Gottes weiter Welt.

Nach Tische gelingt es ihr, ein paar Minuten auf ihr Zimmer zu entkommen und dort schreibt sie in fliegender Eile einen Brief an ihn, und später als der Onkel das vierte Glas hat und sie entlassen wird, läuft sie in den finstern Park hinaus zum Gärtnerhause. Es ist ungefähr neun Uhr, ein schneidender kalter Wind empfängt sie, aber die Wolken haben sich zerteilt und der angehende Mond hängt hinter dem kahlen Geäst der Bäume wie ein großer düsterroter Ballon. Buschens Hausthüre ist noch unverschlossen. Ditscha tritt rasch ein und klopft an die Stubenthüre.

„Herein!“ ruft eine Stimme.

Als Ditscha über die Schwelle kommt, erblickt sie Grete Busch, die vor der Kommode, zwischen den Fenstern, dem Spiegel gegenübersitzt und sich frisiert. „Ach, gnä’ Fräulein,“ sagt sie und erhebt sich.

„Guten Abend! Ist Dein Karlbruder da?“

„Nein, gnä’ Fräulein, der ist mit den Eltern auf meiner Base Hochzeit in Uechte – soll er was?“ Sie hantiert bei diesen Worten eilig und rasch mit einer heißen Brennscheere, und Ditscha sieht an den umherliegenden Garderobestücken, daß Grete Busch im Begriffe ist, Staatstoilette zu machen. Das Mädchen steht da in gesticktem Frisierjäckchen mit blauen Bandschleifen – so besitzt Ditscha keine – und ebenso gesticktem Unterrock an den Füßen kleine Lackschuhe und seidene Strümpfe.

„Ich will noch hin,“ sagt sie, „hatte man bloß keinen Platz mehr in Pachter Jonas’ Kutsche, hätt’ mich alles zerdrückt. – Da wart’ ich nu, bis er das zweite Mal fährt. Ist ja egal, ob ich ’ne Stunde später komme.“

Ditscha kämpft mit sich. Soll sie das Absenden des Briefes bis morgen aufschieben? Aber da ist der Junge sicher müde und verschlafen und bis morgen – wer weiß, was bis morgen geschieht! Sie überwindet sich, sie thut ja nichts Unrechtes.

„Da Du doch einmal nach Uechte kommst – würdest Du mir einen Gefallen thun?“ beginnt sie zögernd.

„Allemal!“ erklärt Grete und bindet einen Schleier über ihren hochgetürmten Lockenbau.

„Gieb Deinem Bruder Karl diesen Brief, er weiß schon –“

„Ich kann ihn doch auch besorgen? Wissen Sie, gnä’ Fräulein, so’n Jung ist manchmal nicht mehr ganz nüchtern und verliert so ’was. Nebenbei sollt’s mich wundern, wenn die Herrn Volontärs nicht auch bei der Hochzeit wären, mein Ohm ist ja Meier auf der Domäne.“

Ditscha giebt ihr den Brief; es ist ihr merkwürdig unheimlich zu Mut dabei und sie hätte ihn am liebsten sofort zurückgenommen, als sie das pfiffige Gesicht sieht, das ganz verklärt ist von einer eigentümlichen Freude. Ditscha hat ’mal ein Bild gesehen, das Bild eines Mädchens mit einem Flämmchen auf dem Haupte, das am Rande eines dunklen Weihers steht und mit dem nämlichen Ausdruck des Gesichtes auf einen Menschen blickt, der mit den Fluten ringt. „Irrlicht!“ stand darunter; zu wunderlich, daß ihr dies heute einfällt!

Draußen fährt jetzt ein Wagen vor und Grete bittet um Entschuldigung, aber sie müsse sich eilen. Sie wirft ganz ungeniert ihr Jäckchen ab und streift ein hellgrünes, mit Spitzen besetztes Kaschmirkleid über, Fächer und Handschuhe liegen auf dem Tische.

Eine herausfordernd elegante Toilette, denkt Ditscha und starrt auf ein Paar Similibrillanten, die in Gretes Ohren funkeln. „Gute Nacht, Grete,“ sagt sie dann kurz, „bestelle es richtig – ich danke Dir auch.“

„Gute Nacht, gnä’ Fräulein –. Gnä’ Fräulein, ach sagen Sie doch nichts an gnä Fräulein Anna von meinem Staat. Sie war gestern abend hier und so böse, ich sei ’was hoffärtig geworden.“ Dabei wieder dieses Lächeln, das ohngefähr bedeutet: „Ich thue nur so, ich weiß schon allein, daß Du nichts verrätst.“

Ditscha verläßt ohne zu antworten das Haus. Jetzt hat sie den Wind im Rücken, der Mond ist voll aufgestiegen und tageshell liegt der Garten.

Ihr ist unbeschreiblich weh und angst zu Mute, geradezu kleinmütig. Wenn er nun nichts wieder von Dir wissen will? fragt sie sich. Er hätte recht! So ein kleinlich engherziges Geschöpf, das sich fürchtet, ein paar gesellschaftliche Schranken zu übersteigen, und einen Menschen zu Grunde gehen läßt deshalb!

Im Turmgeschoß ist noch Licht, Tante Klementine wird da mit Hannes Hilfe den Mond ein wenig aufs Korn genommen haben; im Stockwerk darunter, wo Tante Anna residiert, ist’s ebenfalls erleuchtet. Ditscha schlüpft ins Haus und läuft die Treppe hinan. Es ist eine breite, mit der Raumverschwendung früherer Zeiten angelegte Treppe, die von der rechten Seite des riesigen Flurs nach oben führt. Die ebenfalls altmodische Dimensionen aufweisende Lampe unter der Balkendecke der Halle verbreitet, da nur eine Flamme angezündet ist, ein sehr schwaches Licht.

Auf dem breiten Absatz der Treppe nahe der tiefen Fensternische, in der Ditscha so gern gespielt hat mit ihren Puppen – es ist wie ein winziges Stübchen, zu dem ein paar Stufen führen – bleibt sie stehen und schaut zurück.

Eine Thür ist gegangen, die Wohnstubenthür; Onkel Jochen und Tante Bertha suchen ihr Schlafzimmer auf, das jenseit des Flurs nach dem Gutshofe hinaus liegt. Es ist zehn Uhr vorüber. Ditscha duckt sich unwillkürlich, sie möchte nicht gesehen werden und sinkt plötzlich auf die nächste Stufe nieder und ihre Augen heften sich völlig entsetzt auf die Personen, die da langsam durch die Halle gehen.

Onkel Jochen! Um Gotteswillen – Onkel Jochen? Wie er schwankt! – Tante Bertha stützt ihn – Ditscha erkennt das hochgerötete Antlitz des alten Herrn, aus dem die Augen so seltsam stier blicken, und den stillen bekümmerten Zug der Tante ganz genau.

„Berthachen,“ lallt er, ganz unbeholfene unsichere Tritte machend und seinen Foulard schwenkend, „das ist – das ist ja alles nur dummes Zeug – und wenn ich Dir sage, mir schadet der Grog nicht – so – so schadet er mir nicht –“

„Ja, ja, Alter – aber es war wirklich kein Rum mehr in der Flasche,“ spricht sie sanft, fast zärtlich, und steuert ihn der Schlafstube zu.

„Berthachen – wenn der Achim bei uns geblieben wär’ – er – er hätte mir noch Rum geholt – Du kannst’s glauben – aber weil er nicht da ist – ach du verdammter Bengel – – was braucht’ er – – aufs Eis – zu laufen – Mutter – was braucht’ er – –“

„Jochen, da ist die Stufe – komm nur,“ unterbricht sie ihn.

Er aber bleibt stehen. „Und wenn wir ihn wenigstens gefunden hätten – wenn er da läge in der Ka – Kapelle, dann legte ich mich auch hinein!“ schreit er schluchzend, „aber – so – habe ich keine Lust – hinein – hörst Du? Ich habe keine Lust – ich will nicht – Berthachen – wenn wir ihn nur wenigstens – gefunden –.“

Tante Bertha hat den Wankenden glücklich über die Schwelle geschoben, die Thür schließt sich hinter ihnen, und Ditscha sitzt noch immer zitternd da mit einem nie gekannten Gefühl von Ekel und Mitleid. Als sie hinter sich etwas rascheln hört, fährt sie mit einem schwachen Schrei empor.

„Hanne,“ stottert sie dann, „o Hanne, was war das mit Onkel?“

Die kleine Frau mit dem runden Apfelgesicht und den immer in Thränen schwimmenden Augen schüttelt den Kopf. „O, nichts nich, gnä’ Fröln, ’s ist man bloß seine Art, sich um den Junker to grämen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_279.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)