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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


„Mein Gott!“ ruft das blasse Mädchen. „Er betrinkt sich aus Gram?“

„Fröln Ditscha, he ist de Erste nich,“ bemerkt Hanne.

„Ja! ja!“ stammelt sie und legt die Hand an die Stirn, die schwankende Gestalt, die lallende Stimme – wie furchtbar, welches Elend, welch menschenunwürdiger Zustand! – Und er, er hat sich auch betrunken auf dem Bützower Balle, und sie ist schuld daran!

„Se möten nich so dorüm barmen, Fröln Ditscha,“ tröstet Hanne, „he is doch en gooden, en sehr gooden Herrn, is ja auch nich immer so wie hüt abend – blot so um Wihnachten herüm, wenn de ollen Erinnerungens kommen, denn äwernimmt em dat und he will Vergeten drinken ut sin ollen Grog, und Gott wird’s ihm nicht vor ’n volle Sünd anreken – dat is min Meinung. Nu aber gahn Sei slapn, gnä’ Fröln.“

Ditscha geht in ihr Zimmer, das Herz voll Entsetzen und doch völlig bestärkt in ihrem Entschlnß, Hans von Perthien vor Aehnlichem zu bewahren. Sie will alles thun, daß er nicht so wird – sie muß es thun, es ist ihre Pflicht. Er soll gerettet werden!




Am anderen Morgen traut Ditscha ihren Augen kaum, als bei der Frühandacht zwischen Hanne und dem jungen Stubenmädchen – Grete Busch sitzt. Grete Busch mit glattem Scheitel, in einfachem schwarzwollenen Kleide und Kattunschürze. Sie sieht blaß aus, hält die Hände gefaltet im Schoß und den Blick gesenkt.

Tante Anna hat zu ihrer Morgenbesprechung den Spruch gewählt: Erster Brief Petri 3, 3 und 4: „Ihr Schmuck soll nicht aufwendig sein mit Haarflechten und Goldumhängen oder Kleideranlegen, sondern der verborgene Mensch des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geist, das ist köstlich vor Gott.“ Und hieran knüpft sie eine Betrachtung, die zu einer donnernden Strafpredigt sich steigert, des Inhalts, daß die Leute, die ihres Standes und Herkommens vergessen, absolut nicht für den Eintritt in die Seligkeit geeignet sind, daß einzig und allein Demut not thue, und daß, wenn eine Gärtnerstochter sich gebärden wolle wie eine Baronin, noch niemals etwas Gutes daraus entstanden sei, weder hier zeitlich, noch droben ewiglich.

Grete wird ein klein wenig rot, hebt aber den Blick nicht. Die Dienstleute schauen alle auf sie hin, Tante Bertha hat augenscheinlich gar nicht zugehört und Onkel Jochen nickt fast unmerklich seiner Schwester zu, als wolle er sagen, diesmal hast du ausnahmsweise recht!

Er sieht schrecklich bleich aus, Onkel Jochen, nur die Nase ist gerötet und die Augenränder; er leidet physisch und moralisch unter der Nachwirkung des gestrigen Abends.

Nach der Andacht küßt Grete auffallend unterthänig Tante Annas Hand, knixt noch ein paarmal vor der Herrschaft und geht dann mit den anderen aus dem Zimmer. Ditscha hilft Tante Bertha, wie alle Tage, die Nippsachen vom Staube reinigen und sieht sie währenddem von der Seite an. Tante Bertha ist nicht anders wie sonst, sie putzt und reibt die kleinen Meißener Rokokofigürchen mit so trauriger Miene und so viel Hingebung wie immer, und Ditscha überlegt, ob das Seelengröße oder die Macht der Gewohnheit ist, was sie so ruhig sein läßt.

Bevor sich Ditscha ans Klavier setzt, geht sie noch einmal in ihr Zimmer hinauf und erschrickt nicht wenig, als sich vom Stuhl in der Nähe der Thür eine Gestalt erhebt – Grete Busch.

„Entschuldigen, gnä’ Fräulein, ich komme mit der Antwort von Herrn von Perthien. Ich wußte nicht anders mich ins Schloß zu schmuggeln, als daß ich in die Andacht kam, gnä’ Fräulein Anna hatte mir g’rad’ vor ein paar Tagen gesagt, wenn’s mich einmal drängt, Gottes Wort zu hören, sollte ich nur in die Andacht kommen.“

Ditscha ist dunkelrot geworden vor Empörung über diese leichtsinnige, gottvergessene Rede und das übermütige Kichern des Mädchens.

„Wo ist der Brief?“ fragt sie kurz und tritt auf die andere Seite des Zimmers.

„Ein Brief? Ja, wie soll denn Herr von Perthien bei nachtschlafender Zeit einen Brief schreiben, noch dazu auf dem Tanzboden, wo alle Tische voll von Leuten sitzen und mit Bier begossen sind? Er hat nur so einen Zettel aus dem Notitzbuch gerissen und mit Bleistift darauf gekritzelt – da ist’s!“

Ein winziges Bapier liegt nun in Ditschas Hand, zusammengefaltet wie eine Pulverkapsel aus der Apotheke, unversiegelt und jedenfalls von Grete gelesen.

„Ich danke Dir,“ sagt sie, und aus ihrer Börse ein Geldstück nehmend, will sie es Grete in die Hand drücken.

„Dank’ schön!“ wehrt diese und macht eine Faust, „ich nehme nichts, hab’s aus Gefälligkeit gethan – soll ich auf Antwort warten?“

Ditscha schüttelt den Kopf und dreht ihr den Rücken zu, indem sie sich irgend etwas zu schaffen macht an einem Strauß getrockneter Gräser, den sie im Sommer gepflückt hat und der nun in einer braunen Majolikavase das Wandbort ziert.

„Adieu, gnä’ Fräulein!“

„Adieu!“

Sobald sich die Thür hinter dem Mädchen geschlossen hat, reißt Ditscha das Papier auf. Kaum lesbar steht da:

„Ich danke Dir. Morgen, gegen Abend, an der bewußten Stelle. Ich muß Dich sehen. H. v. P.“ 

Sie fühlt ein starkes Unbehagen, aber sie muß hingehen, sie muß, sie will und darf nicht an sich denken.

Gegen Abend regnet es fürchterlich. Ditscha sitzt am Fenster und späht hinaus, die Wege des Parks gleichen kleinen Flüssen. Im Hause ist es totenstill wie immer, die Uhr des Turmes hat schon ihre fünf schrillen Klänge in die Dunkelheit hinaus gesandt. Ditscha legt den Regenmantel und das Filzhütchen wieder ab – es ist ja doch keine Möglichkeit, daß er dort wartet auf sie, bei dem Wetter! Dann nimmt sie zögernd die Hülle wieder um. Sie darf nicht fehlen; es kann ihr ja auch nicht schaden, wenn sie ein wenig naß wird, sie hat feste Lederstiefelchen. – Und wenn sie jemand trifft auf dem Gang durchs Haus? Er muß sie für verrückt halten, muß sie hindern, in das Wetter hinauszugehen.

Aber sie gelangt ungesehen die Treppe hinunter und huscht an der Dielenuhr vorüber, die, ohne sich zu verwundern, ihren Pendel weiter schwingt. Ach, was hat sie schon alles gesehen, diese Uhr! Gespenstisch einsam ist dieses Haus. – Ditscha hebt den Drücker, öffnet nur ganz wenig den schweren Thürflügel und schlüpft hinaus. Der Regen sprüht ihr ins Gesicht, sie achtet seiner nicht, sie eilt durch die Wege; ihre Füße plätschern im Wasser, sie fürchtet nicht die Nässe. Am Gärtnerhause, am Zaun, der den kleinen Garten umfriedigt, in dem Mutter Busch ihre Geißblattlaube steht, vertritt ihr eine Gestalt den Weg.

„Pst! gnä’ Fräulein!“

Es ist Grete Busch, die ein Tuch übergeworfen hat und hinter ihr hereilt.

„Gnä’ Fräulein, kommen Sie doch – Herr von Perthien ist drinnen.“

„Wo?“ fragt Ditscha, sichtlich betroffen.

„In unserer guten Stube. Sie können sich doch bei dem Wetter nicht hier draußen sprechen, Sie würden ja pitschenaß, gnä’ Fräulein.“

Ditscha steht unschlüssig da.

„Kommen Sie doch nur, gnä’ Fräulein, es sieht Sie ja niemand! Vater ist im Gewächshaus und Mutter liegt im Bette, sie hat sich gestern abend erkältet.“ Und Grete schiebt ihren Arm unter den Ditschas. „Hier herüber, gnä’ Fräulein, da ist g’rad’ die Pfütze vor der Thür – etwas mehr rechts – so – so –“

Und Ditscha geht durch das Vorgärtchen und tritt in das Haus. Als sich die Thüre hinter ihr schließt, deren Schelle Grete sorglich festhält, macht sie jäh eine Bewegung zur Umkehr. Die ganze Wucht dieses Schrittes, der finstere Schatten kommenden Unglücks überfällt sie so machtvoll und deutlich, als enthülle ihr der Blitz eine dunkle Gegend, als sei sie hellseherisch geworden. Aber im nämlichen Augenblick fühlt sie sich festgehalten und umschlungen.

„Ditscha, mein Leben, meine Retterin, mein Glück!“

Sie stößt ihn zurück und sieht sich um, Grete ist verschwunden. Mit zwei Sprüngen ist Ditscha an der Hausthür, um davonzulaufen – da steht er neben ihr.

„Geh’ nur,“ sagt er traurig, „ich halte Dich nicht – ich wußte ja, wie es kommen wird.“

Sie legt einen Augenblick die Hand an die Stirn, dann wendet sie sich um und reicht ihm die Hand. „Verzeih’,“ bittet sie leise.

(Fortsetzung folgt.)


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