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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Sie saß noch eine ganze Weile, während der Abend hereinbrach und die Dämmerung unter den Bäumen und aus den Büschen wuchs. In den Zweigen über ihr huschten unruhig ein paar Vöglein und suchten eine Ruhestätte. Sie hörte auf dem holperigen Pflaster des Marktes langsame Ackerfuhrwerke vom Tagewerk heim- und vorüberziehen. Am Himmel verblaßte das Abendrot und über die Giebeldächer senkte sich leise die Dunkelheit in den kleinen Garten hernieder. Sie unterschied die Beete und Sträucher nicht mehr, nur die hohen Lilien leuchteten noch mit ihren blendend weißen Blüten auf, wie Sterne in der Finsternis. Und aus den alabasternen Kelchen stieg eine Welle von schwerem Wohlgeruch empor in den weichen Sommerabend und flutete wie ein Dunstschleier durch die Luft. So sandten die Blumenkelche gleich Räucherschalen ihren duftenden Hauch der geschiedenen Sonne nach. Die Nacht verwischte die einengende nächste Umgebung. Und so schien es auch Käthe, als blickte sie ins Unendliche und Grenzenlose, auf dem der Gedanke schwimmt wie der Blumenduft im lauen Sommerabend, wie sie dasaß im tiefen Schatten unter dem alten Baume und ziellos sinnend in die Dunkelheit sah.

Hubert wohnte in der nächsten Nähe. Vom Fenster ihres Zimmers, an das der kleine Erker stieß, konnte Käthe den Dachfirst sehen. Das Haus lag in einer der benachbarten Gassen, wo eine ganze Reihe alter, schiefwinkeliger Wohnhäuser stand, die ihre hohen Dächer aneinander lehnten und sich zusammenzudrücken schienen, als ob sie scheu auswichen vor dem neuen Baugeiste, der hier und da in dem Städtchen mit dem Alten aufräumen wollte.

Auch an jenem Abend stand Käthe am Fenster, ehe sie sich zur Ruhe begab. Ganz verlassen und still lag der Markt da, und der Mond konnte ungestört herumleuchten über das holperige Pflaster und in den offenen Hausflur. Kein Laut regte sich außer dem schwachen Plätschern des Brunnens. Um den sandsteinernen Flußgott oben, der nicht müde wurde, seinen Krug auszugießen, flimmerte das Mondlicht, und wie Silberstaub blitzten die Tropfen, in die der dünne Wasserstrahl zerstob, sobald er auf der leeren Platte unten aufiel.

Ebenso fließen die Empfindungen hin und die Menschenträume. Sie fallen in unseren Herzen auf und sprühen in kleinen Tropfen empor. Sie sind ein kalter, feindlicher Regenschauer, wenn es dunkel ist in uns, aber sie leuchten und schimmern wie Perlen, wenn ein Licht ausströmt von unseren Herzen, und dann spannt sich eine farbenprächtige Iris über unseren Weg und wir wandeln in ihrem Glanze.

Am nächsten Tage war Hubert wohlauf, bis auf die Hand. Er kam wie gewöhnlich vorüber auf seinem Wege ins Amt. Sie begegneten sich im Flur. Er hielt sie ein wenig fest und tröstete sie scherzend über den gestrigen Schrecken. Wie von der Neckerei geweckt, zog eine dunkle Röte auf ihren Wangen auf, und da der Vater eben aus dem Garten hereintrat, drehte sie sich beschämt auf den Hacken um und schlüpfte in die Küche.

Und in dem keuschen Mädchenherzen war eine stille, tiefe Neigung sich ihrer bewußt geworden; eine scheue Knospe war aufgegangen, wie des Maien Blumenflor.

Sie trug ihren süßen Traum verborgen in sich. Es war ihr, als müßte sie ihn schützen vor aller Augen; auch vor ihm, dem ihr Herz entgegenschlug. Und sehnte sie sich nach dem Augenblicke, wo er unter die Thüre trat, so trieb es sie manchmal dennoch fort aus seiner Nähe. Eine Umwandlung ging vor in ihr. Die kindliche Unbefangenheit war gewichen, die Morgenröte, die über ihrem Leben gelegen, zerflossen vor einem neuen, hellen Tage. Ein Rätsel lag in ihr. Und alles um sie wurde größer und weiter. Anders verstand sie nun den blauen Sonnenhimmel, die stillen, lauen Abende, die silbernen Mondscheinnächte. Das Gärtchen wurde etwas anderes; der alte Markt mit seinen grauen Häusern und den grünen Läden ein neues Bild. Etwas Großes, Freies, Göttliches dehnte ihre Brust aus, ein Gesang ohne Worte, eine Sehnsucht ohne Namen.

Der Glanz ihres Herzens leuchtete in ihren Blicken. Ihre schlanke Gestalt streckte sich, und ihre Stirn trug sie höher als früher, als wollte sie ein göttliches Fingerzeichen weisen. In ihrer Brust klang beständig ein verhaltener Jubel und eine Art von Verklärung kam in ihr Wesen – das höchste Geschenk der Gottheit, das sie nur den Auserwählten gewährt: die Liebe zu kennen als wunschloses Gebet, als Erwartung ohne Gestalt, als Sehnsucht ohne Ziel, die Liebe in ihrer himmlischen, selbstlosen Zaubermacht, wo sie noch nicht fragt um Gegenliebe.

So kam sie einmal in den Garten hinaus, gegen den alten Kirschbaum, wo Hubert saß, und er sah ihr mit einer Art Verwunderung entgegen.

„Je, Käthe, was bist Du nun eigentlich schon für ein großes Mädchen! Freilich, am letzten Geburtstag warst Du ja neunzehn. Ein respektables Alter,“ setzte er neckend hinzu.

Sie lachte. „Ja, zeig’ nur rechten Respekt!“

„Natürlich! – Aber sag’ mal, scheint’s Dir nicht zuweilen einförmig hier?“

„Wie meinst Du das?“

„Nur so! – Du hast ja noch nichts gesehen als unsern schönen Markt und die alten Häuser; Franz ist auch fort. der Vater ist alt.“ Seine Mundwinkel zuckten mutwillig, und er setzte hinzu: „Ihr werdet ja nicht immer so einsam bleiben wollen –“

Aber Käthe entging geschickt seiner anzüglichen Rede, kramte in ihrem Arbeitskorb und holte ein paar Küchentücher heraus, die sie einsäumen wollte.


3.

Als der Sommer zu Ende ging, kam Kaufmanns Gusti heim aus einem Institute, wo sie ein paar Jahre unterrichtet worden war. Ihr erster Besuch galt der alten Freundin drüben in dem Häuschen an der Ecke, und dann kam sie fast jeden Tag. Sie war viel gebildeter als Käthe, sie hatte mehr gelesen und gesehen und nahm manchmal einen Ton der Ueberlegenheit, der Weltkenntnis an. Auch lauter, gesprächiger und lustiger war sie als Käthe und schüttete über die Freundin, nachdem die richtige Anknüpfung nach den Jahren der Trennung sich wiedergefunden hatte, wahre Sturzwellen von Erzählungen des Erlebten und Erschauten aus.

Kam Hubert dazu, so entspannen sich zwischen ihr und ihm oft lustige Neckereien, wovon er gar kein Ende finden konnte, als ob seiner mutwilligen und fröhlichen Natur bisher die Gelegenheit dazu nicht ausgiebig genug geboten worden wäre. Lächelnd saß dann Käthe mit ihrer Arbeit dabei.

Jähes Unwetter blies die letzten schönen Spätsommertage davon. Der Herbst riß die Blätter von den Bäumen, zerzauste im Garten die Büsche und entblätterte die letzten Rosen. Auf den Feldern draußen sammelten sich schreiende Krähen zu Scharen und stelzten über die Aecker. Zerrissene Regenwolken flogen über die Häuser weg und gossen Tag um Tag ihren Inhalt herab, daß am Markte schon große Tümpel standen und die alten Häuser mit den graugesprenkelten Fassaden und den moosigen Schindeldächern völlig verwaschen dreinschauten. Neben Käthes Fenster platschte aus dem aufgesperrten Drachenmaul der Dachrinne unablässig ein dicker Wasserstrahl herab und das blecherne Ungetüm schien eine schadenfrohe Grimasse zu schneiden vor Freude über das Gepolter. Die Abende wurden lang, und da man noch nicht heizen wollte, saß man frierend in den Zimmern.

Noch vor dem Allerseelentage wirbelten die ersten Flocken nieder und die alten Leute, die überall ein bißchen das Privilegium haben, für Wetterpropheten zu gelten, sagten einen strengen Winter an.

„Das wird hübsch für mich,“ meinte Hubert. „Ich habe nun ein paar Monate Dienst im Forst draußen. Geh, Käthe! Könntest mir wieder einmal ein Paar dicke Fäustlinge stricken, und wenn ich sie früher als erst um Weihnachten bekomme, will ich Dein mildthätiges Herz preisen!“

Sie machte sich im Verborgenen gleich daran, schaffte sich eine dicke warme Wolle an und arbeitete des Abends, wenn sie allein in ihrem Zimmer saß. An dem ablaufenden Faden zwischen ihren Fingern hingen tausend Gedanken. Wenn sie die fortschreitende Arbeit prüfend betrachtete, dachte sie an seine Hand, und der Handschuh weckte eine ganze Reihe von Bildern vor ihr: den einsamen Wald mit den weichen Schneelasten auf den gebogenen Tannenzweigen, die Triften, ganz verhüllt in der weißen Flaumdecke. Ausgestapfte Fußpfade gehen über den Schnee, über den ab und zu verdorrte Farne hängen, und die wenigen braunen Halme, die so lang gewesen, daß sie noch herausragen können. Wildspuren kreuzen den Weg. Wie verlassen muß es dann draußen sein, beinahe unheimlich!

Auch der Garten lag ganz vereinsamt, verweht und begraben im Schnee. Die Thüre, die hinausführte, blieb geschlossen, und

der halbdunkle Flur bekam ein kaltes, ungemütliches Aussehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_290.jpg&oldid=- (Version vom 1.12.2020)