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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

und seiner Frau scheinbar eine noch tiefere Trauer verursacht, sie hatten mit seltsam blassen Gesichtern dagesessen, als ob sie’s nicht überleben würden, den Thron von Beetzen anders besetzt zu sehen als von ihrem Sohne. Es wäre in diesen Novembertagen den beiden Trauernden das Liebste gewesen, ein Abgrund thäte sich auf und verschlänge ganz Beetzen und sie dazu und ihre ewig wehen Herzen.

Niemand merkt etwas von Ditschas Liebe. Erstlich hätten sie es samt und sonders für ganz unmöglich gehalten, daß eine Tochter des Hauses von Kronen heimliche Zusammenkünfte habe mit dem Manne, der ihr versagt sein sollte nach weisesten Familienbeschlüssen, und zweitens – nochmals derselbe Grund: die Sache ist abgemacht. So lange das Geschlecht derer von Kronen besteht, hat nie ein Fräulein dieses Hauses anders gefreit als mit vollster Billigung sämtlicher Familienmitglieder, immer ist’s eine passende Partie gewesen, immer waren es geregelte Verhältnisse, in die sie eintrat, nach üblicher streng bemessener Verlobungszeit unter den Augen der Mutter, als eine gemessene würdige Braut zum Altar schreitend, um auf irgend einem Edelsitz eine tüchtige, hochansehnliche, tadellose Hausfrau zu werden.

Man achtet also nicht mehr als gewöhnlich auf Ditscha – die Sache ist abgethan! Sie merken es auch nicht, daß das schöne Mädchen still und stiller wird. Sie zieht sich vor jedem Scherz Jochens, der beim dritten Glase Grog nach wie vor erfolgt, blutrot und verletzt zurück, und weder dem Onkel noch der Tante fällt das auf, denn Jochen von Kronens Lustigkeit ist ja nur ein Aufflackern, das mit dem vierten Glase bereits erlischt, um dem alten Elend zu weichen. Tante Klementine sieht ein wenig schärfer, aber auch nicht genug, nur das sieht sie, daß die Stimmung des Mädchens wechselt, daß sie von der tiefsten Niedergeschlagenheit zur schrecklichsten nervösen Gereiztheit sich steigern kann, daß sie entweder gar nicht spricht oder lange Reden hält von Pflicht, von Liebe, von Selbstlosigkeit – Dinge, die die kranke Dame nicht versteht, und die sie mit dem Hinweis auf irgend etwas Alltägliches herabzustimmen sucht.

Arme Ditscha! Sie kann’s nicht mehr ertragen, wie’s jetzt ist, sie, der Lüge und Heimlichkeit so schrecklich sind, daß es ihr wie ein Gang zum Schafott erscheint, wenn sie zur Gärtnerwohnung hinüber schleicht, um dort Hans von Perthien zu sehen, Hans, der sie immer mit demselben Vorwurf empfängt, daß sie ihn nicht liebe, der sich in den bittersten Ausdrücken beklagt über die jammervolle Heimlichthuerei, und der stets damit endet, sie anzuflehen, daß sie ihm treu bleibe, ihn rette, und jedesmal sein Ehrenwort darauf giebt, er werde sich, wenn sie ihn verließe, in den Strudel stürzen, wo er am tiefsten, und daß es ihm bei Gott! gleich sei, wenn man ihn eines Morgens aus der Gosse auflese!

Mitunter spricht er auch von seiner Mutter und wie lieb es sein wird, wenn sie dann beide auf Wandersleben wohnen und Ditscha der alten Dame die Schlüssel abnimmt und spricht: Jetzt ruhe Dich aus, ich sorge für Dich! – „Nicht wahr, das soll ein Leben werden in richtiger treuer Pflichterfüllung, Ditscha? Denn, siehst Du, Arbeit und Treue zu seinem Beruf, das ist das Wahre.“

Er hat jetzt herausgefunden, daß Ditscha das Leben ernst nimmt, daß sie krank ist aus Sehnsucht nach Aufopferung und Liebe, ernster wahrer Liebe. Tändelei, Liebelei und Koketterie sind ihr völlig fremd.

Sie leidet Höllenqualen bei diesen Zusammenkünften. Sie sitzt auf dem Sofa, die Hände zusammengepreßt, bei jedem Geräusch erschreckend, das schöne kindliche, doch ernste Gesicht überflutet bald eine tiefe Röte, bald eine fahle Blässe, sie ist hundertmal daran, zu rufen: „Ich ertrag’s nicht länger – gieb mir mein Wort zurück!“ Dann sieht sie wieder Onkel Jochen vor sich, schwankend, lallend, und dann schweigt sie. Grete Busch kommt gewöhnlich mit ihrer Arbeit und setzt sich zu dem jungen Paar an den Tisch; der Karlbruder ist auf Wache gestellt, falls Mutter rufen oder Vater sie suchen sollte. – Ditscha wünscht Gretes Gegenwart, obgleich sie ihr unsagbar unsympathisch ist, und Hans von Perthien hat erst recht nichts einzuwenden, denn der „tugendhafte kleine Eiszapfen“, der beim Kommen und Gehen ihm kaum einen Kuß gestattet, der seine überaus strengen Ansichten so bestimmt und kurz verficht, überhaupt so unbräutlich wie möglich sich gebärdet, macht die Situation zu einer ziemlich ledernen, wie er meint.

Grete bringt etwas Humor hinein. Sie erzählt von ihrem Berliner Leben, soviel sie es für gut findet, und bisweilen pfeift sie die Melodie irgend eines Couplets, zu dem Hans die Worte kennt und sich dann totlachen will, wobei Ditscha ihn erstaunt ansieht und Grete unentwegt weiter pfeift mit einer Verve, als wenn sie ein Berliner Gassenjunge wäre. Ehe die Abschiedsstunde schlägt, entfernt sich Grete diskret und Hans von Perthien hat noch Gelegenheit, Ditscha zu versichern, wie sehr er sie liebt und daß er ohne sie verloren ist.

Mutter Busch liegt noch immer krank. Sie ahnt nicht, was da in ihrer guten Stube vor sich geht, Vater Busch merkt’s auch nicht, er döst so vor sich hin und betritt überhaupt den Raum nie. Die Hoffahrt seiner Frau, eine gute Stube zu besitzen, hat ihn immer empört. Er hätte das Zimmer lieber zur Schlafstube gehabt, die nun oben liegt. „Na aber, de Wiwer don’t nich anners, un ein Glasschrank mit’n paar vergoldete Tassen geiht jümm över de Gemütlichkeit.“

Nun kommt die Zeit, wo die alte Gärtnersfrau wieder aufstehen soll, und Grete ist selbst unsicher, ob die Mutter nichts merken wird, und ob sie, wenn sie etwas merkt, auch stillschweigt. „Sie wäre imstande und ginge geradeswegs zum Herrn Baron,“ erklärte Grete eines Tages, „Mutter ist so snurrig in so etwas!“ – Grete weiß aus eigener Erfahrung, wie „snurrig“ Mutter Buschens Ansichten „in so ’was“ sind, und daß die brave ehrliche Frau lieber sterben würde, als dem gnädigen Fräulein Ditscha Gelegenheit geben, ihren Schatz hinter dem Rücken des Herrn Onkels in ihrem, Mutter Buschens, Haus zu empfangen, Fräulein Ditscha, die ihr Liebling und ihr Stolz ist, und die die alte Frau den Sonnenschein von Beetzen nennt.

Die drei jungen Menschenkinder sind wieder in der „guten Stube“ versammelt, als Grete im Flüsterton diese Andeutungen macht. Es ist der sechzehnte Dezember herangekommen und Ditscha ist in der Zeit mager und elend geworden, denn sie weint die Nächte hindurch und schwankt zwischen Selbstverachtung und Opferfreudigkeit.

„Und überhaupt,“ fährt Grete fort, „es muß nun doch ’mal anders werden, gnä’ Fräulein Sophie. Ich heirat’ gleich nach Neujahr und dann geh’ ich nach Berlin, und Mutter, ich hab’s schon gesagt, gnä’ Fräulein, Mutter erlaubt’s nicht, daß sich gnä’ Fräulein hier Rendezvous geben, sie ist so snurrig.“

Ditscha, die auf dem Sofa sitzt, hebt die Augen nicht vom Boden und ist sehr blaß. Hans von Perthien steht am Ofen und Grete setzt sich nach einem „Ist’s erlaubt?“ an den Tisch vor die Petroleumlampe und stickt emsig an einem Rückenkissen weiter; sie kann dabei sprechen, denn sie füllt nur aus, der Pferdekopf mit wallender Mähne ist bereits fertig in grau und weißen Perlen. Dieses geschmackvolle Stück soll das Sofa in Gretes künftigem Heim schmücken und vorläufig als Weihnachtsgeschenk für ihren Alfred dienen.

„Ditscha, wie soll das werden?“ singt Hans von Perthien sein altes Lied, „ich ertrag’s nicht, wenn ich Dich nicht sehe.“

„Ich wüßt’, was ich thät’,“ erklärt Grete, „ich heiratete heimlich – nachher, da ist nichts mehr dran zu ändern, da müssen die Herrschaften zufrieden sein.“ Grete hat blühende Schilderungen von heimlichen Trauungen in ihren Colportageromanen gelesen, besitzt aber keine Ahnung, ob so etwas wirklich möglich ist. Ditscha ist so unerfahren, sie weiß überhaupt gar nichts von Recht und Gesetz als das, was man so gewöhnlich erfährt, sie hat wohl schon von heimlichen Trauungen gehört, aber sie schüttelt den Kopf.

Hans von Perthien beißt sich auf die Lippen. Grete hat da etwas ausgesprochen, das er schon längst vorschlagen wollte und sich dennoch scheute, es zu thun vor Ditschas reinen Kinderaugen. Daß eine heimliche Trauung völlig unmöglich ist hier zu Lande, das weiß er ja, aber – wenn er Ditscha bereden könnte, mit ihm zu fliehen, dann würden Papa und Onkel Kronen doch schließlich sehr bald die Trauung folgen lassen, und – Hans von Perthien ringt wie ein Ertrinkender mit seinen Gläubigern, und außerdem, er ist wahr und wahrhaftig vernarrt in das schöne Geschöpf, und mit ihr und ihrem Erbteil kann er auf Wandersleben, da droben am Harz, residieren wie ein kleiner Fürst. Es ist obendrein so hundemäßig langweilig in der Welt, und wenn ’mal wirklich etwas Romantisches passiert, so ist’s eine Wohlthat für eben diese Welt. Möglicherweise wird die Geschichte einen großartigen Lärm absetzen und alle üblichen Register werden aufgezogen werden – Vaterfluch – Enterbung, Verachtung Ditschas und ihres Erkornen, aber nein, sie werden still sein, ganz still.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_295.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)