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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

reißenden Absatz. Nachdem wir nun noch von dem mitgenommenen Brot, dabei es in Honig tunkend, gespeist hatten, ging es, als die Sonne sich zu neigen begann, an einem geräumigen Viehhof und einem in den Felsen gehauenen Weinkeller, der in etwa zwei Jahren vollendet sein soll, vorüber, den Wohnhäusern zu.

Wir passierten den von mir wenige Stunden früher allein zurückgelegten Weg, der steil sich am Berge hinwindend zum Plateau hinaufführt. Vor uns im Westen senkte sich eben die Sonne in das leichtbewegte Meer, das Gras unter unsern Füßen war noch nicht verwelkt, und daß die blattlosen Bäume nicht gar zu traurig aussahen, dafür sorgten zahllose Ranken der Clematis und Epheugewinde, welche die Aeste bis in die Gipfel hinauf bedeckten. Es war warm wie mitten im Sommer.

Das rauschende Meer, die herrliche Aussicht, die wir, immer höher und höher emporklimmend, genossen, weckten in mir liebe Erinnerungen an den baltischen Meeresstrand, wo ich noch kürzlich so traulich schöne Stunden inmitten meiner Lieben verlebt hatte. Wie hatte sich das alles nun verändert! Fern von der Heimat, durch mehr als 2000 Kilometer von den Meinen getrennt und erst der geringste Teil meiner großen weiten Reise überwunden!

Verlockend huschte der Gedanke durch mein Inneres, bei diesen guten Leuten zu bleiben, die mich mit offenen Armen aufzunehmen bereit waren; doch nur vorübergehend ließ ich mich von der Möglichkeit einer derartig herbeigeführten Wiedervereinigung mit den Meinen verwirren. Ist es recht, wenn das Weib, das dazu berufen ist, den Begriff alles Schönen im Herzen ihrer Kinder zu wecken und zu pflegen, sich absichtlich in häßliche Bauernkleider hüllt, ist es recht, wenn sie aus ihrer trauten Häuslichkeit hervortritt, um das Glied einer Gemeinschaft zu werden, die ausdrücklich auf die segensreiche Umfriedung eines persönlichen Heims verzichtet? –

Ich konnte diesen Gedanken nicht nachhängen, denn eben sah ich mich von Herrn S. angeredet: „Wissen Sie, Konstantin Konstantinowitsch, daß unsere Schulkinder außer der russischen Sprache nur noch das Deutsche erlernen?“

Das klang mir überraschend genug, und mit einem grenzenlosen Erstaunen konnte ich nur fragen: „Warum?“

„Ja, sehen Sie,“ fuhr mein Begleiter fort, „wir sympathisieren natürlich wie alle Vaterlandsgenossen mit den Franzosen und würden gern unseren Pariser Freunden etwas Angenehmes erweisen, aber unsere Kinder sind uns doch zu lieb, als daß wir es auf ihre Kosten thun könnten. Zu einer realen, gediegenen Bildung gehört unbedingt die deutsche, vielleicht auch die englische Sprache und nicht vergessen darf man, daß Kant und andere Männer ihre Theorien in deutscher Sprache niedergelegt haben. Und was sind Uebersetzungen!“ …

Noch am selben Abend lernte ich einen Zögling der Kolonie kennen, der ganz hübsch deutsch sprach, und als ich am andern Tage die Schule besuchte und die Hefte der Kinder mir ansah, erhielt ich fast auf alle Fragen aus der deutschen Grammatik richtige Antworten. Auch das reichhaltige Herbarium der Schule enthält durchgängig lateinische, russische und deutsche Benennungen und in der Bibliothek giebt es eine besondere Abteilung für deutsche Werke.

Diese Bibliothek, in der ich an beiden Tagen, während ich in Krinitza war, arbeitete, ist es gleichfalls wert, als ein sehr gemütlicher Winkel geschildert zu werden. Von mehreren Glasschränken umgeben, in denen über 1000 Bände, alles Perlen der Litteratur in russischer, deutscher, englischer und französischer Sprache, aufbewahrt werden, enthält das Zimmer ein Seitenstück zu dem oben erwähnten Klavier, nämlich einen wunderhübsch gearbeiteten und polierten Schreibtisch.

Das Abendbrot vereinigte alle Mitglieder der Genossenschaft im großen Speisesaal an zwei Tischen. Am größeren hatten die Tagelöhner und das jüngere Volk Platz genommen, am kleineren hingegen saßen die älteren Herrn und in ihrer Mitte ich. Gegessen wurde gemeinsam aus großen Schüsseln, die in der Mitte des Tisches standen, und zwar mit Holzlöffeln.

Im Nebenraum hatten sich mittlerweile alle Kinder versammelt, und während wir nun den schmackhaften Speisen zusprachen und mit dem heimischen Wein auf ein glückliches Gelingen meiner Reise angestoßen wurde, ertönte plötzlich aus dem Nebenzimmer Klavierspiel mit Violinbegleitung. Es waren zwei Knaben von 12 bis 14 Jahren, die mit großer Fertigkeit für Tafelmusik sorgten.

Am nächsten Tage besuchte ich noch die Viehställe sowie das Magazin, einen Speicher mit allerhand Waren, von denen Jeder seinen Bedarf unentgeltlich bezieht, ferner die Werkstätten für Schlosser- und Drechslerarbeiten und ein im Bau begriffenes sehr geräumiges Haus. Der Bau ist so angelegt, daß in der Mitte ein sehr großer luftiger Saal für die Kinder aufgeführt wird, während in allen vier Ecken Zimmer für eine gleiche Zahl Ehepaare hergerichtet werden.

Ziehe ich nun das Facit von meinen in Krinitza gewonnenen Erfahrungen, so kann ich nicht umhin, die beispiellose Selbstverleugnung aller erwachsenen Glieder der Kolonie anzuerkennen, mit der sie sich, von den eigenen Kindern abgesehen, einer ganzen Schar fremder Wesen widmen, um sie dereinst zu, nach ihrer Ansicht, glücklichen Menschen zu machen. Wie man es unter gebildeten Leuten nicht anders erwarten kann, hört man dort kein böses oder gar schlechtes Wort, alles atmet reine, herzliche Harmonie und unter den schlichten Bauernkitteln schlagen biedere, treue Herzen, die es verursacht haben, daß mir die Thränen ins Auge traten, als ich, von den herzlichsten Wünschen begleitet, meinen weiten Weg fortsetzte.

Habt Dank, ihr lieben, guten Menschen in den wilden Bergen des Kaukasus, die ihr mir so schöne Stunden in eurer Mitte bereitet habt, und möge Gott euch vor allen Enttäuschungen bewahren!


Wägungen und Messungen der Kinder.

Unter dieser Aufschrift hat in Nr. 16. des letzten Jahrgangs die „Gartenlaube“ einem Aufrufe Verbreitung gegeben, welchen die „Gesellschaft für Kinderheilkunde“ erließ, um von Eltern und Aerzten Aufzeichnungen über Wägung und Messung von Kindern, namentlich von solchen im ersten Lebensjahre, zu erlangen. Die Berichte über normale Kinder sollten an Oberamtsarzt Dr. Camerer in Urach (Württemberg), diejenigen über Kinder, welche längere Zeit krank gewesen, an Sanitätsrat Dr. Biedert, Kreisarzt in Hagenau im Elsaß, gesandt werden.

Heute sind wir in der Lage, einen Bericht über die bisherigen Ergebnisse des Aufrufs, der von seiten des erstgenannten Arztes für die „Gartenlaube“ zusammengestellt wurde, zur Veröffentlichung zu bringen. Herr Dr. Camerer schreibt:

Ich selbst habe ein ziemlich reichliches Material von Beobachtungen an gesunden Kindern erlangt, mein Kollege Biedert zwar einige wertvolle Aufzeichnungen, kranke Kinder betreffend, aber doch viel weniger, als er gewünscht hatte. Gleichzeitig mit unserem Dank möchten wir daher die Bitte um weitere Aufzeichnungen aussprechen.

Die Tabellen sollen enthalten: das Gewicht der nackten Kinder in Gramm, auf einer guten Wage bestimmt; das Maß der Länge in Centimetern; die Art der Ernährung (Mutter, Amme, künstlich ernährt und wie?), bezw. die Zeit des Entwöhnens; etwaige Krankheiten und deren Dauer; endlich sind Notizen über Zahnausbruch erwünscht.

Der Abdruck unseres Aufrufes in der „Gartenlaube“ hat uns besonders viel Material eingebracht und so dürfen wir auch annehmen, daß gerade in ihrem Leserkreise ein kurzer Bericht über die bisherigen Ergebnisse auf Interesse rechnen kann.

Es beträgt nach denselben das Mittelgewicht eines gesunden Kindes in Gramm:

Geburts-
gewicht
4. T. am Ende der Wochen
2. 4. 8. 12. 16. 20. 24. 28. 32. 36. 40. 52.
Frauen-
milchkinder
aus 97 Fäl-
len be-
rechnet
3450 3250 3550 3980 4810 5530 6220 6800 7310 7740 8170 8630 8880 9880
künstlich
Ernährte
aus 59 Fäl-
len be-
rechnet
3370 3390 3690 4280 4880 5510 6200 6830 7200 7650 8090 8340 9350
Differenz 80 160 290 530 650 710 600 480 540 520 540 540 530
Es beträgt das tägliche Wachstum in Gramm:
vom 4.–28. Tag Ende der 4. bis
Ende der 8. Woche.
8.–12. 12.–16. 16.–20.
Frauenmilchkinder 31 29 26 24 21
Künstlich Ernährte 22 21 22 22 25
20.–24. 24.–28. 28.–32. 32.–36. 36.–40 40.–52.
Frauenmilchkinder 18 15 15 16 9 12
Künstlich Ernährte 22 18 16 16 9 12
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_302.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)