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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

gegangen – oder an irgend etwas anderm Schweren, so etwas, wo wir beide da gestanden hätten in Jammer und Herzeleid, ohne helfen zu können, so etwas, wo wir hätten sagen müssen: ‚Wär’ er doch lieber nie geboren!‘ Denk’ nur, Joachim.“

„Ach was, Kind, das glaubst Du ja selber nicht, das hat Dir damals der Pastor einreden wollen! Ich hab’s gehört und hab’ mich darüber geärgert. Das ist ein jammervoller Trost, für alte Waschweiber und dergleichen! Damals hast Du auch nichts davon hören wollen. – Ich seh’ Dich noch, wie Du in Verzweiflung ihm winktest, er solle zu sprechen aufhören. Du saßest ja da und horchtest immer hinaus, meintest immer, die Leute würden den armen Jungen doch noch bringen, wenigstens seinen Körper. – ‚Er ist ja nicht tot, Herr Pastor!‘ hast Du gewimmert, ‚es kann ja nicht sein, nehmen Sie mir nicht alle Hoffnung!‘ Herr Gott, ich sehe alles noch vor mir, bis ins Kleinste! Du hattest ein kornblumblaues Kleid an und eine rote Kragenschleife, und die Haare hingen Dir wirr übers Gesicht, weil die beiden armen Hände immer wieder hineinfuhren, und so kreideweiß und so verzerrt warst Du, und dazu all die Leute in der Stube, die Verwalter, der Doktor, der Pastor und die Nachbarn. Der alte Graf Berkow, sein Pate, und der Karkower und die beiden Schlüchterns und der alte Calwerwisch – –“

„Und Du standest da am Ofen, als hättest Du den Starrkrampf, Jochen.“

„Ja, ich meinte immer, es sei ein Traum, und ich sagte zu Friedrich: ‚Kerl, rüttle mich ’mal, daß ich aufwache!‘“

„Jochen, wenn ich doch lieber gestorben wäre!“

„Oder ich! Du hättest den Jungen besser noch erzogen, wie ich es gekonnt.“

„Ach, Jochen, der erzog sich allein, er war so verständig – so gut –“

„Ja, ja, das war er,“ und der Mann bricht in leises jammervolles Weinen aus.

„Komm, Jochen, komm, trink’ Deinen Grog,“ bittet sie.

„Nein, heute nicht! Nein, ich kann nicht!“ Er setzt sich wie erschöpft neben sie in das Sofa und legt den Kopf an ihre Schulter. „Ja, Alte, was thun wir eigentlich noch hier?“ schluchzt er.

So sitzen sie beide, in dem Schmerz um den Verlorenen wühlend. Das Pfeifen des Sturmes draußen hat nachgelassen und die Heilige Nacht sinkt herab auf die in Andacht erschauernde Erde, in alle Häuser und Hütten dringt der Gottesfriede, nur in dieses nicht, und bitterlich weint der Mann. Und sie, die stille, früh ergraute Frau, hält ihn umfaßt, und auch ihre Thränen rannen leise über die Wangen.

Tante Anna draußen auf ihrem Weihnachtsposten nickt ein, so still, so totenstill ist es um sie her; dann wacht sie auf von einem bellen einzelnen Glockenton. Sie hat wohl lange geschlafen? Das Buch ist ihr vom Schoß geglitten, die Kerze vor dem Spiegel fast heruntergebrannt – Eins schon? Sie sieht nach – ein Uhr, richtig! Fröstelnd schmiegt sie sich tiefer in den Stuhl, dann fährt sie empor – es ist doch kein Traum gewesen! – Die Glocke – die Glocke der Hofthür wird abermals heftig gezogen.

Tante Anna springt auf – es ist ein Zeichen, das lange nicht vernommen wurde in diesem Hause. Sie ergreift das Licht und stürzt in den Flur. Friedrich poltert eben die Treppe herauf, noch in den Kleidern, denn die Leute sitzen noch beim Punsch beisammen, und läuft zur Thür.

Ein Telegraphenbote kommt herein, über der Uniform einen dicken roten Shawl, den er wahrscheinlich eben von seiner Frau zu Weihnacht bekommen hat, die Beinkleider aufgekrempelt, einen Stock in der Hand und rot vor Kälte.

„Ein Telegramm für Herrn Baron – sechzehn Groschen!“ sagt er mit einem gewissen Schmunzeln, das glauben läßt, er ahne etwas von dem Inhalt.

Tante Anna heißt ihn warten, eilt an die Wohnstubenthür und pocht, als gelte es, Tote zu erwecken. „Jochen! Bertha!“ ruft sie, „ein Telegramm!“

Darauf kommt der schwere Tritt des Bruders herüber. Er öffnet die Thür, und nun stehen sie zu Dritt und zittern dem Inhalt der Depesche entgegen.

Joachim von Kronen hat das Papier aufgerissen, über sein Geßcht fliegt ein wunderliches Zucken. „Ein Sohn!“ sagt er leise.

Tante Bertha faltet die Hände, ihre Lippen hängen an dem Antlitz ihres Mannes.

„Ein Sohn! Klaus hat einen Sohn!“ schreit Tante Anna auf, „Jochen – Bertha – einen Sohn! O, lieber Gott, welch ein Weihnachtsgeschenk!“

Jochen von Kronen faßt sich zuerst. „Und heute!“ sagt er, „Berthachen – heute!“

„Es ist – es ist wunderbar, Joachim!“

Tante Anna ist zur Klingel geeilt, und als Friedrich eintritt, ruft sie ihm entgegen: „Dem Herrn Oberst ist ein Sohn geboren, Friedrich!“

Der Alte nickt schmunzelnd, wirft indes einen scheuen Blick auf seine Herrschaft, der Baron aber reicht ihm mit zitternder Hand ein Geldstück – „Für den Boten!“

Tante Anna läuft jetzt aus der Stube, sie hat etwas von Ditscha und Klementine gerufen, ihre hohe freudige Stimme schallt durch das ganze Haus. – Die Lampen sollen im Empfangszimmer angezündet werden, befiehlt sie, die Leute sollen alle nach oben kommen, der Herr Baron habe ihnen etwas zu sagen: und nun stürzt sie die Treppe hinauf, um Ditscha zu wecken und Klementine.

Mann und Frau sind allein geblieben; seine Thränen sind versiegt. „Ein Erbe für Beetzen!“ sagt er leise. Sie aber, sie schluchzt jetzt ganz rückhaltslos, bitterlich, in diesem Augenblick rüttelt der Schmerz sie heftiger als je.

„Berthachen,“ murmelt er, „aber Berthachen!“

Im Hause ist es lebendig, ist’s Weihnacht geworden mit einem Male. Hanne hat Fräulein Klementine, die schlaflos auf ihrem Stuhle liegt, die Freudenkunde zugerufen, und die Lippen der Kranken flüstern ein Dankgebet. Friedrich hat sämtliche Lampen im Empfangszimmer angebrannt, die Dienerschaft versammelt sich da mit erregten Gesichtern, denn sie wissen alle, was geschehen ist, und auch sie bewegt die frohe Kunde, besonders die Alten. Der Baron spricht mit jedem ein paar freundliche Worte, die gnädige Frau nickt nur aus verweinten Augen. Tante Anna, Ditscha und Hanne fehlen noch.

Plötzlich stürzt letztere schreckensbleich herein. „Herr Baron, gnä’ Frau Baronin – uns’ Fröln Ditscha – o Gott – o Gott – nee!“ – Sie faßt sich an die Kehle, als ersticke sie von dem, was sie sagen will. – „Kommen Sie doch man bloß rasch nach oben!“ stößt sie endlich hervor.

Tante Bertha, die denken muß, das Kind sei krank geworden, eilt aus dem Zimmer, so rasch sie kann, der Baron folgt ihr. Die Thüre von Ditschas Stube steht weit auf, drinnen brennt ein Licht auf dem Tische. Tante Anna sitzt davor auf einem Stuhl, fassungslos, zitternd, ein Blatt Papier in der herabhängenden Hand.

„Was ist’s!“ ruft Joachim barsch. Er wird immer zornig, wenn er erschrickt.

„Schließt die Thür!“ verlangt Tante Anna.

Hanne macht die Thüre zu. Joachim entreißt seiner Schwester das Blatt, ärgerlich über ihr Gebahren, liest es, sieht im Zimmer umher, als suche er jemand, und liest wieder.

„Barmherzigkeit!“ schreit Tante Bertha, die ihn starr angesehen hat, „sie ist fort, Joachim, sie ist fort, Jochen – sie ist – –“

„Fort!“ sagt Tante Anna, „fort mit ihm –“

„Mit wem? mit –?“

„Der Schurke!“ stöhnt Joachim.

„Hans von Perthien?“ stammelt Frau von Kronen.

„Verzeiht mir, daß ich selbständig handle, lieber Onkel, liebe Tanten!“ liest er mit halblauter bebender Stimme, „ich werde Hans von Perthiens Frau gegen Euren Willen. In Helgoland werden wir getraut. Wenn Ihr mir verzeihen könnt, so thut es,

ich begehe ja keine Sünde, erfülle nur meine Pflicht, indem ich ein gegebenes Wort halte.

Sophie von Kronen.“ 

„Wann ist sie fort?“ fragt Joachim, als ob die beiden Frauen es wissen müßten.

„Hanne hat sie sicher zuletzt gesehen!“

Hanne wird hereingeholt. Sie kann keine Auskunft geben, sie weiß nur, Fräulein Sophie hat in die Kirche gehen wollen heute abend. Um vier Uhr, als Hanne ihr den Thee gebracht, war sie noch da.

„Sie wird mit dem Abendzug von Bützow fort sein,“ sagt Jochen von Kronen nach einer schwülen Pause. „Und jetzt habt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_311.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)