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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nr. 22.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (8. Fortsetzung.)

Ditschas Augen folgen beharrlich der ihr voranschreitenden alten Frau, wie zierlich das „Mutterle“ dahingeht in dem einfachen Kleide aus schwarzer Seide und dem ein wenig altmodischen Umhängchen aus dem nämlichen kostbaren Stoff. – Durch die schwarzen Spitzen des Hutes schimmert das silberne Haar und am Arm hängt ihr der Pompadour längst vergangener Mode.

Rothe bemerkt ihre freundlichen Blicke und lächelt darüber. „Jetzt ist’s heimatlich auf Dombeck,“ sagt er, „und, gnädiges Fräulein, jetzt könnten Sie – nein, jetzt müssen Sie sogar einmal herüberkommen. Ich weiß, der Baron macht keine Besuche – ich weiß es,“ schneidet er ihre Erwiderung ab, „aber Sie können’s doch auch allein? Jetzt, wo meine Mutter bei mir ist, da dürfen Sie jedes Bedenken schwinden lassen, auch der peinlichste Sittenrichter wird’s nicht wagen – –“

Sie sieht ihn groß und erschreckt an, er versteht diesen Blick falsch. „Ich begreife ja vollkommen,“ fährt er fort, „ich bin wirklich ein entschiedener Gegner der modernen Emancipation von der guten alten Sitte und finde, daß heute ebenso wie in vergangenen Zeiten oder in ferner Zukunft die Frau nie um eines Haares Breite über die Linie gehen darf, die ihr die Etikette vorschreibt. Wäre meine junge Schwester bei mir zum Besuch, ich würde die Bitte nicht stellen, aber mein Mutterle, das vollkommen die Stelle einer Hausfrau vertritt, bei der dürfen Sie sich doch melden lassen – gelt?“

„Ich bin nicht pedantisch,“ murmelt sie, um doch etwas zu sagen.

„O, in einem gewissen Punkt sollen und müssen Sie es sein,“ sagt er ernst. „Sie können sich ruhig meiner Ansicht anschließen, ich bin als der intoleranteste Mensch in dieser Hinsicht bekannt.“

„Wenn’s Onkel erlaubt,“ sagt sie mit abgewendetem Gesicht.

Er hält sie für prüde, und sie möchte weinen über sich. Dort, gerade vor ihr, lugt das Gärtnerhaus aus dem Grün der Bäume, in das sie so oft heimlich gegangen. – Eine lähmende Scham kommt über sie, sie möchte am liebsten schreien: Was würden Sie sagen, wenn Sie wüßten! – –

Sie ist ein paar Schritte zurückgeblieben, wie um Atem zu schöpfen. Als er sich umschaut, sieht er sie so blaß und verändert, daß er fragt, ob sie krank sei. Sie schüttelt stumm den Kopf.

Der Baron und die alte Dame sind links eingebogen und stehen nun schon vor dem Baum, den die Großmutter einst gepflanzt. Es ist nicht viel da zu sehen. Ditscha wird die Linde, ein keineswegs sehr stattliches Exemplar, dem eine Sandsteinbank zu Füßen steht, erst heute interessant.

Man geht dem Ausgang des Parkes zu; Kurt Rothe plaudert weiter. Er hat ein Bibliothekzimmer eingerichtet und fragt, ob Ditscha gern liest, und was sie gern lese.

„Man hat mich immer sehr knapp gehalten mit geistiger Nahrung, Tante Anna hat die Bibliothek zugeschlossen, als sie vor Jahren bemerkte, daß ich mir zuweilen dort Lektüre holte, bis jetzt ist sie nicht wieder geöffnet. Onkel Joachim liest außer seinen Zeitungen gar nichts und ist wie alle im Hause der Meinung, daß Lesen mehr schadet als nützt,“ sagt sie und lacht, während ihr die Thränen in den Augen stehen.


Carl Vogt 0
Nach einer Photographie von J. Lacroix in Genf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_357.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2023)