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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Allmächtiger, welch eine Pedanterie! Es kommt doch darauf an, was man liest, und vor allem, wie man liest, ruft er flammend, ohne ihre Bemerkung zu beachten. „Es ist ja eine ungeheure Grausamkeit, Fräulein von Kronen – –“

Dann bricht er ab, er will ihr nicht weh thun, ihr nicht die Armut ihres Lebens noch deutlicher zeigen, jetzt nicht, wo er ihren Durst nicht löschen kann, den Durst, der aus jedem Zuge ihres ernsten Gesichtes, aus ihren fragenden traurigen Augen so deutlich redet. So gehen sie schweigend an der Geißblattlaube der Gärtnerwohnung vorüber. Ditscha streift das Haus mit keinem einzigen Blick, die Erinnerung betäubt sie heute förmlich. Sie giebt Rothe am Parkthor eine eiskalte zitternde Hand und duldet es in halber Bewußtlosigkeit, daß die alte Frau sie zärtlich in die Arme zieht und küßt.

„Auf Wiedersehen!“ sagen Mutter und Sohn, und sie spricht mechanisch nach: „Auf Wiedersehen!“




Es ist nach Tische. Ditscha hat allein mit Onkel Joachim gespeist, der kleine Achim, der vermutlich mit Himbeereis überfüttert wurde und infolgedessen unartig war, mußte fortgeführt werden von seiner Bonne, sein Schluchzen und Schreien, daß er bös sei mit Mama, weil sie die Onkel und Tanten, die zu Besuch bei ihr sind, viel lieber habe als ihn, klingt noch jetzt in Ditschas Ohr. Der Onkel macht ein grimmiges Gesicht, und Ditscha liest ihm, wie sonst, im Wohnzimmer die Zeitung vor.

Er hört offenbar nur zerstreut zu, und nun biegt er mit seinem Pfeifenrohr das Zeitungsblatt herunter, in welchem das junge Mädchen liest.

„Ditscha!“

Sie sieht verwundert auf, das hat so eigentümlich geklungen. „Ditscha,“ beginnt er zögernd, „einmal muß man ja doch darüber sprechen, und seit einigen Tagen, seit ich hier so mancherlei ansehe, das mir zu denken giebt, da drängt es mich – es betrifft Deine Zukunft, Kind, wie stellst Du Dir eigentlich Dein Leben vor, wenn ich tot bin und Cilly hier ganz als Königin-Mutter residiert? Natürlich hast Du ein Anrecht auf die Beetzener Heimat, aber wirst Du Dich denn auch hier wohl fühlen? Du harmonierst so recht mit keinem, und – –“

„Onkel,“ sagt sie erschreckt, „sprich nicht vom Sterben – bitte, nicht!“

„Doch, Ditscha, doch! Sei so gut und setze mir auseinander – was würdest Du thun? Wie würdest Du Dein Leben einrichten?“

„Wenn Du es so willst, antworte ich Dir ehrlich, Onkel! Ich würde nicht hier bleiben, ich würde einen Beruf suchen, einen Lebenszweck, Arbeit, damit ich –“

„Nun möcht’ ich wissen, was Du arbeiten willst?“ unterbricht er sie. „Du kannst Dich doch nicht als Wirtschafterin vermieten? Brauchst’s doch auch nicht, hast zu leben!“

„Und wenn ich eine Million hätte, Onkel, ich muß etwas thun, ein müßiges Leben könnte ich nicht führen. Ich denke es mir z. B. so schön, einer Heimstätte für kranke Kinder vorzustehen ich – möchte Liebe ernten.“

„Unsinn! Heirate lieber!“ ruft er und trinkt seinen Grog aus. Ditscha wirft ihm einen vorwurfsvollen flehenden Blick zu. Er ist ganz verlegen geworden und räuspert sich. „Na ja,“ poltert er, „das ist meine Meinung! Und wenn Einer kommt – ein anständiger Kerl muß es natürlich sein – dann greif’ zu, wenn’s auch kein Fürst ist. Heutzutage, da verwischen sich die Unterschiede der Stände mehr und mehr, und Du –“ er stottert, thut ein paar mächtige Züge aus der Pfeife, und während sie ihn groß und kühl ansieht, endet er: „Du bist ja ein ganz vernünftiges Mädchen.“

„Ich verstehe Dich, Onkel, Du meinst – Ansprüche kann ich überhaupt nicht machen?“ vollendet sie sehr ruhig.

„Wieso denn? Wie kommst Du denn darauf?“ antwortet er und bastelt an seiner Pfeife, um sie nicht anzusehen.

„Ich habe nie mehr an eine Heirat gedacht, Onkel – Du weißt es, warum,“ sagt sie langsam.

„Ja, wovon redest Du denn eigentlich zum Kreuzelement!“ donnert er los, „spielst Du etwa auf den alten Kohl an mit dem Perthien? Da schlag doch Gott den Deubel tot, wenn das nicht ein ganz verdammtes Blech ist! Denkst Du, wenn ein Mädchen seine erste Liebe nicht gekriegt hat, das sei ein Hindernis für die zweite? Ich bitte Dich um alles in der Welt, nur keine Sentimentalitäten! Daß Du im Begriff warst, eine kolossale Dummheit zu begehen, das hast Du mit der Zeit wohl selbst einsehen gelernt, und daß Du Gott auf den Knien danken kannst alle Tage, daß er Dir besagte Dummheit ersparte, weißt Du wohl auch –. Na, und deshalb wolltest Du nun eine alte Jungfer werden? Wer kennt denn die alberne Geschichte? Doch nur wir und der ‚Windhund‘, der Gott weiß, in welchem Winkel von Amerika umherlumpt? Also sei so gütig und sieh mich nicht so traurig hoffnungslos an.“

„Onkel,“ beginnt sie. – Sie will sprechen, sie will ihm von Grete Busch erzählen, etwas, das sie schon tausendmal hat thun wollen, aber sie bekommt keinen Ton über die Lippen.

„Na,“ sagt er und rückt mit seinem Stuhl näher zu ihr hinüber und klopft auf ihre Hände, die sie im Schoß verschlungen hält. „Na, und wenn’s Dich beruhigt, dann sage ich dem Jungen, wenn er anhalten kommt: ‚Sie können sich denken, daß Sie nicht der erste sind, der um meine Nichte wirbt, ’s ist schon ’mal einer dagewesen, und den hat sie sogar ein bißchen geliebt –‘“

„Nein!“ stößt Ditscha hervor, „nicht geliebt! O nein, sage ihm das nicht, bitte, nicht!“ Und dann schlägt sie erglühend die Hände vor das Gesicht und die Thränen stürzen ihr aus den Augen und rannen durch die schlanken Finger, während Joachim von Kronen im Sessel liegt und lacht, so herzlich lacht, daß die Hunde am Ofen erschrecken und herüber kommen.

Ditscha springt auf und will aus dem Zimmer flüchten, der alte Herr hält sie fest am Kleid und zieht sie auf seine Knie. „Ich sag’s ja, Ditscha, so ein alter Tapermeyer, wie ich bin, versteht’s nicht, zarte Herzensbeziehungen zu besprechen. Du weißt doch, wie ich’s meine, Kind, hast mich verstanden? Ich kann ja auch nicht wissen, was Dir die Zukunft bringt, aber man ist so ein bißchen Wetterprophet und mir kommt’s vor, als liege ’was in der Luft. Und nun geh’ schlafen, mein Deern, und träume schön. Bist doch nicht böse auf mich? Mußt mir’s zugute halten, es ist Egoismus – ich würde ruhiger sterben, wenn ich Dich glücklich wüßte.“

Ditscha geht schluchzend aus dem Zimmer, sie weiß gar nicht, wie sie in das ihrige kommt. Hatte Onkel ihr Geheimnis erraten, ein Geheimnis, das sie sich selbst noch kaum gestanden? Oder sprach er im allgemeinen? Sie wirft sich auf ihr Bett und weint weiter. Und warum sprach Onkel heute von ihrem Fluchtversuch als von einer Bagatelle? Wo sie ihre Jugend vertrauert hatte unter der schweren drückenden Last ihrer Schuld! Wenn es keine Schuld, wenn’s wirklich nur eine Kinderei war, weshalb ließ man sie weiterachleppen an diesem Irrtum? – O, und wenn sie auch keine Ansprüche machen kann, er darf die allergrößten machen; er soll kein Weib neben sich haben, auf dem auch nur der Schein eines Makels ruht! – Ach, das ist das Elend, das Tante Klementine prophezeite!

Sie hört plötzlich auf zu weinen und streicht die wirren Haare aus der Stirn. Sie ist nicht schlecht, sie ist gut, sie ist rein und – um eines Irrtums willen verdammt man doch nicht! Wenn er kommt, wenn er das nächste Mal kommt, dann wird sie ihm ihre Geschichte erzählen, noch ehe er ein Wort von Liebe zu ihr gesprochen hat. Und dann mag er entscheiden, dann ist’s noch leicht für ihn, sich zurückzuziehen ohne daß es jemand auffällt. – –

Und sie? Ja, was dann aus ihr wird, das vermag sie nicht auszudenken!




Die Frühandacht versammelt die Familie andern Morgens wie gewöhnlich im Saal, nur Frau Cilly fehlt. Onkel Joachim ärgert sich darüber, Tante Anna entschuldigt sie mit Migräne, die der Hausherr sehr ungalant mit „Kater“ bezeichnet. Ueberhaupt, die Stimmung ist schwül, obgleich es draußen ziemlich kalt ist und der Herbstnebel in den nassen Blättern der Bäume hängt. Beim Kaffee macht Joachim von Kronen einige mißbilligende Bemerkungen über gewissenlose Mütter, die einer höchst windigen Bonne die Sorge für ihre Kinder überlassen, um sich selbst zu amüsieren und legt zugleich neben Tante Annas Tasse ein Buch, taunaß und beschmutzt, das Mademoiselle gestern im Park vergessen hat, wo sie angeblich mit dem Kleinen spielte, einen ganz tollen französischen Schmöker neuester Richtung, der selbst dem gar nicht prüden Hausherrn, der so verloren darin geblättert hat, ein Grausen einjagt.

„Cilly kann doch nicht Kindermädchen spielen?“ erklärt Tante Anna, ohne das Buch zu beachten.

Kindermädchen nicht, der Junge ist zu groß für ein derartiges Exemplar, aber verkehren kann sie mit ihm, spielen, ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_358.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)