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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

ändern kann. Wir bewirken nun das „Sehen in der Nähe“ dadurch, daß wir diese Krystalllinse beim Naheblick stärker krümmen. Dies können wir aber nur durch die Kraft eines Muskels, welcher sich zusammenzieht. Bekanntlich müssen wir im Opernglase eine Schraube drehen, wenn wir von der Bühne weg auf Personen blicken wollen, die uns nahe sitzen. Mit dieser Schraube können wir den Muskel vergleichen, der uns befähigt, in die Nähe zu sehen. Diese Schraube versagt im Alter ihren Dienst, nicht allein durch Abnutzung, sondern durch die größeren Widerstände, welche die immer zäher, härter und unbeweglicher werdenden Teile des Auges, namentlich die Krystalllinse, ihr entgegensetzen. Dieser Muskel, der Accomodationsmuskel, wird nun jahraus jahrein den ganzen Tag von früh bis abends angestrengt; daher ist es gar nicht zu verwundern, wenn er wie alle übrigen Muskeln in späteren Jahren nicht mehr die Kraft hat wie in der Jugend.

Wenn die ersten Runzeln an Stirn und Schläfen, jene gefürchteten Feinde des schönen Geschlechts, sich zu zeigen anfangen, wenn trotz aller Pincetten, die im stillen Kämmerlein hervorgeholt werden, in der Gegend der Schläfe erst einige und dann immer mehr graue Härchen zum Vorschein kommen, dann pflegen sich auch die ersten Zeichen der Ermüdung jenes Muskels geltend zu machen. Es kommt also im Anfange der 40er Jahre, bei manchen besonders kräftigen Personen freilich erst gegen Ende der 40er Jahre dazu, daß sie, die bisher ausgezeichnet in die Ferne und die Nähe gesehen haben, bemerken, daß es namentlich abends nicht mehr recht beim Lesen gehen will. Sie halten das Buch immer weiter vom Auge ab, sie halten es hinter das Licht, um es recht gut zu beleuchten; aber auf die Dauer ist das Lesen doch unmöglich. Sobald nun das Lesen feiner Schrift nur gelingt, wenn die Schrift weiter als 1/4 Meter vom Auge fortgehalten wird, dann sprechen wir von eingetretener Weitsichtigkeit, Presbyopie oder Alterssichtigkeit. Der Name rührt schon von Aristoteles her. Die Strahlen, die weniger als 1/4 Meter vom Auge entfernt sind, werden nun nicht mehr auf der Netzhaut, sondern hinter derselben erst vereinigt. Setzt man aber eine gekrümmte Linse, eine Konvexbrille vor das Auge, so werden die Lichtstrahlen wieder auf der Netzhaut vereinigt; die Linse, welche wir vorsetzen, vertritt die stärkere Krümmung der Linse im Auge. Durch diejenige Konvexbrille, mit welcher die Schrift in 1/4 Meter Entfernung erkannt wird, ist das Leiden gehoben.

Man kann nun als einfache Regel aufstellen: das schwächste Konvexglas, mit welchem feine Schrift noch auf 1/4 Meter leicht gelesen wird, kann als Arbeitsglas dienen. Diese Wahl der Brille ist also, wenn das Auge sonst in die Ferne gut sieht und gesund ist, überaus leicht. Der Accommodationsmuskel kann hinter der Brille ruhen, er ermüdet nicht mehr. Da aber der Muskel von Jahr zu Jahr schwächer wird, so muß auch die Brille mindestens von 2 zu 2 Jahren verstärkt werden. Ob man nun ein Lorgnon oder eine Brille kauft, ist lediglich Geschmackssache. Es ist bei ihr nicht anders wie bei der Wahl des Spazierstöcks; mancher liebt einen solchen mit rundem Knopf, ein anderer einen solchen mit einer Krücke; jeder nimmt das, was ihm am bequemsten ist. Für längere Arbeiten ist wohl die Brille bequemer, da sie fester sitzt, für kürzere Arbeiten genügt ein Lorgnon vollkommen.

Was nun die Nummern betrifft, so besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Lebensalter und der Brillennummer. Maurolycus von Messina erzählt, daß die Glasschleifer im 15. Jahrhundert nicht die Nummern der Gläser, sondern die Zahl der Lebensjahre auf die Gläser kratzten, für welche sie bestimmt waren. Später, und zwar noch bis in die neueste Zeit hinein schrieben die Optiker eine Nummer in das Glas, welche die Brennweite des Glases angab, das ist diejenige Entfernung in Zollen, in welcher die Strahlen hinter dem Glase in dem Brennpunkt sich vereinigen würden. Man hatte also eine Reihe, die mit 80 anfing, d. h. ein Glas, das so schwach war, daß erst 80 Zoll hinter ihm der Brennpunkt lag; dann kam 60, 50, 40, 36 etc. bis herab zu 2. Nummer 2 war das stärkste Glas; die Strahlen vereinigen sich schon 2 Zoll hinter demselben. Mit 42 Jahren fing man gewöhnlich mit Nummer 60 an und ging allmählich herab.

Aber in neuerer Zeit sind die Augenärzte übereingekommen, das Zollmaß, das ja kein Tischler und kein Schneider mehr anwendet, mit dem Metermaß zu vertauschen, und so haben wir jetzt die Brillen nach der Meterskala geordnet, und zwar umgekehrt wie früher, so daß die niedrigsten Zahlen 1, 2, 3 etc. jetzt die schwächsten Nummern sind, während früher die höchsten Zahlen 80, 60, 50 die schwächsten Nummern waren. Daher die große Verwirrung im Publikum. Wir sagen jetzt, ein Glas ist Nummer 1, es hat die lichtbrechende Kraft 1, wenn es seinen Brennpunkt in einem Meter hat; diese lichtbrechende Kraft nennt man Dioptrie. Ein Glas hat zwei lichtbrechende Kräfte, zwei Dioptrieen, wenn es in 1/2 Meter seinen Brennpunkt hat; es ist Nummer 4, wenn es in 1/4 Meter, Nummer 10, wenn es in 1/10 Meter seine Brennweite hat, – und das stärkste Glas ist heute Nummer 20, welches in 1/20 Meter, also in 5 Centimeter, seinen Brennpunkt hat.

Da ein Meter ungefähr = 40 Zoll ist (nicht genau, aber das thut wenig für unsere Zwecke), so kann man leicht eine alte Zollbrille in eine neue Meterbrille umrechnen, wenn man sie in 40 dividiert; also die alte 40 = 40/40 = neue 1; 20 = 40/20 = 2; 10 = 40/10 = 4; 5 = 40/5 = 8; 2 = 40/2 = 20.

Wir erhalten dann folgende Tabelle:

Zollbrille = Meterbrille etwa: Zollbrille = Meterbrille etwa:
Nr. Nr. Nr. Nr.
40 1 (40/40) 10 4 (40/10)
32 1.25 (40/32) 9 4.5
26 1.5 8 5 (40/8)
23 1.75 7 5.5
20 2 (40/20) 6 6 (40/6)
18 2.25 5 8 (40/5)
16 2.5 4 10 13 (40/4)
14 2.75 3 13 (40/3)
13 3 (40/13) 2 20 (40/2)
11 3.5

Die Zahlen stimmen nicht ganz, weil eben der Meter nicht 40, sondern nur 38,3 Zoll ist.

Nun kann man nach vielen Beobachtungen ungefähr folgende Tabelle entwerfen.

Das gesunde Auge braucht

  mit 45 Jahren   Meterglas Nr. 1
  mit 50 Jahren Meterglas Nr. 2
  mit 55 Jahren Meterglas Nr. 3
  mit 60 Jahren Meterglas Nr. 4
  mit 65 Jahren Meterglas Nr. 4,5
  mit 70 Jahren Meterglas Nr. 5,5
  mit 75 Jahren Meterglas Nr. 6
  mit 80 Jahren Meterglas Nr. 7

immer vorausgesetzt, daß das Auge in die Ferne gut sieht und gesund ist.

Schlimm sind nur die Maler dran, welche bald in die Ferne, bald in die Nähe sehen müssen, und die immerfort das Glas abnehmen und aufsetzen sollen. Diese können sich mit den Franklinschen Brillen behelfen; sie rühren her von demselben Franklin, der den Blitzableiter erfunden hat. Sie bestehen aus zwei Hälften. Man denke sich ein Brillenglas wagerecht durchschnitten. Die obere Hälfte ist Fensterglas und die untere enthält das Konvexglas für die Nähe. Man kann auch solche Gläser à double foyer (mit doppelter Brennweite) schleifen, so daß z. B. oben Konvex 2 und unten Konvex 4 ist etc. –

Kehren wir nun von unserer Abschweifung wieder zurück zu der Erfindung der Buchdruckerkunst, so müssen wir feststellen, daß dieselbe bei der Jugend nicht allein Bildung, sondern auch leider eine Krankheit verbreitet hat, nämlich die Kurzsichtigkeit; letztere stellte sich ein, da die Jugend,die vorher niemals viel zu lesen hatte, nun durch die kleinen Buchstaben gefesselt wurde. Die Kurzsichtkeit ist bekanntlich das Unvermögen, in der Ferne scharf zu sehen.

Es wäre nun allerdings ein großer Irrtum, zu glauben, daß es vor der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht auch Kurzsichtige gegeben habe. Schon Aristoteles hat die Kurzsichtigkeit sehr genau beschrieben; er erwähnt auch zuerst, daß die Kurzsichtigen beim Fernsehen die Augen zusammenzukneifen pflegen, weil sie dann besser sehen. Dieses Blinzeln, welches ästhetisch nicht gerade sehr schön ist und das man bei allen Kurzsichtigen findet, die keine Brille tragen, heißt auf Griechisch μύειν, daher der Name Myopie. Auch Plinius erwähnt die Kurzsichtigkeit. Der berühmte Rechtslehrer Ulpian erzählt, daß im alten Rom jeder Verkäufer eine Ware zurücknehmen mußte, wenn sie einen Fehler hatte; jedoch sei es in Rom Gesetz gewesen, daß kurzsichtige Sklaven nicht zurückgegeben werden durften; die Römer hatten nämlich Schreibsklaven, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_368.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2022)