Seite:Die Gartenlaube (1895) 400.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

aus unbehauenen Feldsteinen erbauten Kirche, die, eine der ältesten in der Provinz, verwundert genug in den Wasserspiegel hineinschauen mag, an den sie urplötzlich hart herangerückt wurde. Der Ort ist vom Kanal mitten durchschnitten, so daß die in der nördlichen Hälfte wohnhaften Kinder eine hier wie an so vielen Stellen der ganzen Linie den Verkehr vermittelnde Fähre benutzen müssen, um zu der im südlichen Teil des Dorfs gelegenen Schule zu gelangen. Nach viertelstündiger Fahrt gelangt man von Sehestedt bei der genannten Ortschaft Steinwehr in das Gebiet der Obereiderseen, in denen der Kanalbau nur geringe Mühe gemacht hat, da es sich fast ausschließlich um Ausbaggerungen handelte, die im Audorfer See allerdings eine Wendestelle betrafen, auf der die größten Kriegsschiffe mit Bequemlichkeit drehen können.

Fähre bei Kudensee. 

Bei der Stadt Rendsburg, 36,6 Kilometer von der Holtenauer Mündung entfernt, wird es den Kapitänen kleinerer Fahrzeuge fortan freistehen, ob sie die neue Wasserstraße nach Brunsbüttel oder, wie bisher, die Eider nach Tönning benutzen wollen, um die Nordsee zu erreichen. Denn mit der Untereider ist der Nordostseekanal am sogenannten Kronwerk im nördlichen Teile der Stadt durch eine bequeme Schleuse in Verbindung gesetzt, welche, erheblich breiter und tiefer als die frühere, für 550000 Mark hergestellt worden ist. Gleichzeitig wurde der vom Audorfer See nach dieser Schleuse geführte Wasserarm durch eine neue Drehbrücke für die nordwärts von Hamburg nach Schleswig und weiter nach Jütland führende Eisenbahn überbrückt. Der Nordostseekanal selber hingegen ist in einer Entfernung von einem Kilometer südlich um die somit in der Gabelung zweier Vorteil bringender Wasserstraßen liegende Stadt herumgeführt, um, bei Osterrönfeld durch zwei eingleisige Eisenbahndrehbrücken und eine dritte Brücke für die Chaussee überspannt, seinen Weg durch den Saatsee zu nehmen, woselbst umfangreiche Betriebshafenanlagen, Depots und dergleichen mehr eingerichtet worden sind. Dann zieht er in südwestlicher Richtung durch das langweilige Moor des Eiderthals, bis er an der Grenze des Landes Dithmarschen auf einen von Nord nach Süd verlaufenden Höhenzug trift, den er bei Grünenthal durchschneidet.

Hat man, von dem holsteinischen Eisenbahn-Centralknotenpunkt Neumünster kommend, auf der westholsteinischen Bahn bei der Station Hanerau-Hademarschen, dem Sterbeort Theodor Storms, die Grenze Dithmarschens überschritten, so sieht man alsbald die Hochbrücke von Grünenthal vor sich, und das langsame Tempo des Zuges verrät, wie sehr er bergan steigen muß, um sie zu erreichen; wenn er nicht überhaupt, was häufig auf dieser Sekundärbahn vorkommt, wiederholt zurückfahren muß, um einen neuen Anlauf mit verstärktem Dampf zu nehmen. Auch bei Levensau war es nötig, um der dortigen Brücke die verlangte lichte Höhe von 42 Metern über den Kanalspiegel zu geben, daß man erhebliche Dammaufschüttungen bis zur Brückeneinfahrt aufführte. Weit schwieriger und umfangreicher aber waren die Arbeiten in Grünenthal, wo die oben erwähnten Rampen vor den beiderseitigen Brückenthoren eine Höhe von 21 Metern über dem Terrain besitzen und daher eine Erdbewegung von fast zwei Millionen Kubikmetern erforderten, bei deren Heranschaffung, von zahllosen anderen Maschinen abgesehen, zwei Lokomobilen von je 100 Pferdekräften ununterbrochen Züge von je 30 Kippwagenn von über drei Kubikmetern heranholten. Da außerdem auch die Ausschachtung des Kanalbetts ein schweres Stück Arbeit war, so ist Grünenthal Jahre hindurch eine der interessantesten Kanalbaustätten gewesen, an der Tausende von „Grandmonarchen“, wie der Holsteiner gemeiniglich die Erdarbeiter nennt, untergebracht werden mußten. Noch heute ist ein Teil des dortigen Barackenlagers, bei welchem manch blutiger Strauß an die alte Dithmarsen-Wildheit erinnerte, mit Arbeitern belegt.

Die Elbmolen an der Mündung des Kanals bei Brunsbüttel.

In Grünenthal, dessen richtigen Namen – man schrieb früher allgemein Grünthal – man erst während der Kanalbauperiode mit ausgegraben hat, trifft’s sich nicht selten, daß man den Rest der von nun an fast südlich und nur auf der letzten Strecke wieder südwestlich gerichteten Wasserstraße mittels einer der dort zahlreich verkehrenden Kanalpinassen bis Brunsbüttel zurücklegen kann. Ist man auf diesem Wege an Hochdonn vorüber bei dem wenig östlich von der Kanallinie gelegenen Flecken Burg angelangt, so lohnt sich’s, auf ein Stündchen an Land zu gehen. Denn dieser Ort, malerisch am Fuß der hier schroff aus der Marsch hervorsteigenden Geest gelegen, in dessen Nähe die Grafen von Stade vor grauen Zeiten ihre Bökelnburg erbauten, bietet Punkte, von denen aus man den reizendsten Blick über die grüne Marsch und das in der Ferne dämmernde dunkle Moor einerseits und anderseits in die leicht hügelige Geest, mit der Grünenthaler Brücke als weithin sichtbare Landmarke, genießt. Durch seine Berührung mit dem Kanalbau aus seiner Weltvergessenheit geweckt und mit einem kleinen Hafen an der neuen Wasserstraße ausgestattet, hat der idyllische Ort denn auch bald seine Bestimmung erkannt und empfiehlt sich heute in den Zeitungen als – Luftkurort.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_400.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)