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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Kiste sind auch Geschenke für Ditscha, und aus dem großen Karton dort quillt der Duft heimatlichen Weihnachtsgebäcks.

Er hat’s nicht ertragen, er ist wieder hinaus gegangen in das Schneetreiben, in Nacht und Sturm. Auf der Chaussee wandert er dahin, immer mit dem nämlichen wirbelnden Gedanken; den eisigen Wind empfindet er als Wohlthat, der Schnee stäubt gegen ihn von der Seite und bleibt in Haar und Bart, er merkt es gar nicht. Die Chaussee ist wie gefegt, nur zur Rechten hebt es sich wie weiße Dünen, die Obstbäume ragen kaum zur halben Stammhöhe darüber hinweg. Hinter ihm, die Rute eingezogen, läuft frierend die kleine braune Teckelhündin, wie immer jetzt. Dann und wann bleibt das Tierchen stehen und schaut verwundert hinter ihm drein, als wolle es fragen: Herrchen, kehrst du noch nicht bald um? Dann läuft sie wieder, um ihn einzuholen, sie weiß nicht mehr, was sie von ihrem Gebieter denken soll, und fühlt doch, daß jemand bei ihm bleiben müsse. Ihr Mann, der bequeme Waldmann liegt daheim und schläft in der Sofaecke, aber sie hat keine Ruhe, sie geht mit. Er ist so sonderbar jetzt, zuweilen darf sie stundenlang auf seinem Schoß liegen, und er kraut ihr, wie in Gedanken verloren, den Kopf, dann plötzlich springt er auf, so heftig, daß sie mit jähem Sturz in das Zimmer geschleudert wird, und stürmt davon. Wie kann Waldine da zu Hause bleiben?

Und plötzlich steht das kluge Tierchen still und hebt den feinen Kopf, dann ist es mit zwei Sprüngen drüben an dem Schneewall und beginnt, ein heiseres hohes Geheul ausstoßend, zu scharren. Im nächsten Augenblick steht ihr Herr neben ihr. Am Rande des Schneewalles liegt etwas – ein Mensch – ein Kind – der Schnee hat schon eine leichte Decke darüber gebreitet. Kurt Rothe reißt das dem Tode verfallene Geschöpf empor, ein leises Wimmern dringt ihm entgegen „Onkel Rothe! Mama – Mama!“

„Du bist das, Junge?“ fragt der erstaunte Mann.

„Onkel Rothe,“ wimmert er – „müde!“ und der arme halberfrorene Knabe drückt den Kopf gegen die Brust seines Retters.

„Wie kommst Du hierher? Schlaf nicht ein, Achim.“

Er rüttelt und schüttelt besorgt den kleinen Wicht auf seinen Armen, knöpft seinen Mantel auf, drückt ihn an sich und schlingt das Kleidungsstück um ihn zusammen, während er weiter schreitet. Nur einen Augenblick hat er überlegt: Zu mir – oder nach Beetzen? Aber Beetzen ist schon näher und so hat er den Wind im Rücken.

„Achim,“ keucht er, während er mit der Last dahineilt, die mit dem Gewicht eines Toten in seinen Armen liegt, „Achim, warum bist Du fortgelaufen?“

„Ich war so allein, ach, so allein!“ lallt schlaftrunken das Kind.

„Ganz allein, Achim?“

„Ja, Onkel Jochen ist traurig, Mademoiselle ist fortgegangen und Ditscha ist krank, und Mama – –“ und plötzlich wird dem halbtoten Kinde klar, weshalb es fortgelaufen. „Lieber Onkel Rothe, Mama hat mich nicht mehr lieb, hilf mir doch – sie soll sich nicht mehr küssen lassen von Onkel Bredow.“

„Friert Dich sehr, Achim?“

„Nein, ich bin so müde.“

Kurt Rothe eilt noch immer im Geschwindschritt dahin. Wäre er eine Viertelstunde später gekommen! Die Vorstellung macht ihn grausen.

Dort unten ist schon der Kirchturm von Beetzen, wenn er quer über das Feld geht, schneidet er ein tüchtiges Stück ab; er ist dann zehn Minuten früher am Herrenhause.

Und derweil ist Mademoiselle heimgekommen und hat Achim nicht in der Kinderstube gefunden. Zunächst lächelt sie sorglos, sie weilt noch in der Erinnerung in der Stube des hübschen Volontärs im Pächterhause drüben, der momentan ihr Freund ist und sie küßt die goldene Uhr, die er ihr geschenkt hat, und dreht sich wie toll auf dem Absatz herum, irgend ein französisches Liedchen singend. Dann ruft sie noch einmal: „Achim, arrivez tout de suite!“

Es ist alles still um sie.

Er wird bei Mama sein? Aber Mama hat ihn ja nicht haben wollen!

Die Kammerjungfer bringt jetzt das Souper für Mademoiselle und den Junker.

„Aben Sie gesehen der Achim!“ fragt Mademoiselle. „Ist er bei seiner Maman?“

„Nein, gnä' Frau ist ganz allein mit ihrem Besuch; die mag keinen Dritten nich heute,“ giebt die Zofe mit vielsagendem Lächeln zur Antwort.

„Aber – wo soll er sein? Ik werden selbst fragen.“ Und Mademoiselle trippelt bis zur Thür des Salons und ruft „Achim! Achim!“

„Er ist nicht hier,“ antwortet Madames Silberstimme aus dem Boudoir, „er soll auch nicht kommen – comprenez – er soll für sich spielen heute!“

Mademoiselle läuft nach der Kinderstube zurück, von dort in die Küche und dann zu dem Zimmer des Herrn.

„Was beliebt?“ fragt Friedrich, der eben heraustritt.

„Ist Achim bei seine Onkel?“

„Nein, soll auch heute nicht zu ihm kommen.“

Mademoiselle steigt zu Ditscha hinauf. Sie pocht so energisch, daß das in seinen Gram versunkene Mädchen emporfährt und hinüberschwankt, um zu öffnen. „Wer ist da?“ stammelt sie.

„O, gnädig’ Fräulein, Achim! Achim soll essen kommen und ist nicht zu finden.“

„Achim? – Achim ist nicht hier!“

Mon dieu!“ schreit Mademoiselle, „ô quel malheur! Achim ist fort, ik hatten ihn allein gelassen ein paar Minuten.“

„Fort?“ wiederholt Ditscha mechanisch und ebenso geht sie der Treppe zu, und dort setzt sie sich auf die oberste Stufe und und sieht ganz verstört vor sich hin.

„Er ist nicht bei Madame und nicht bei Herr Baron, nicht in der Küche und nicht in der Kinderstube,“ jammert Mademoiselle.

Ditscha ist leichenblaß geworden. Ach, sie kennt ja die Weihnachtsabende in diesem Hause, die ein Kinderherz so bedrücken! Plötzlich eilt sie die Treppe hinunter und reißt die Hausthür auf, da sieht sie Spuren, kleine leicht verschneite Spuren, die die Treppe hinunterführen, und im nächsten Augenblicke läuft sie in der schneehellen Nacht dahin, den Spuren nach.

Auch das Kind! O, es ist schlimm für junge Herzen, das Beetzener Herrenhaus. Sie hungern und dürsten nach Liebe, sie sehnen sich fort und sie verirren sich.

„Achim! Achim!“ ruft sie halberstickt durch den Wind im Dahinfliegen. Das Parkthor ist noch offen, die Leute sind noch nicht zurück aus der Kirche. Auch hier noch kleine Spuren und jetzt hinüber auf die Landstraße. „Achim! Achim!“ Sie fühlt ihre Schwäche nicht mehr, nur noch eins – das Kind ist verirrt, erfroren – tot.

Aber allein kann sie da draußen ja nicht suchen, man muß Laternen mitnehmen, sie wendet sich und läuft ein paar Schritte zurück. Dann kommt ihr der Gedanke: Hanne hat den Junker mit in die Kirche genommem und sie wendet sich wieder dem Ausgang zu, sie will in die Kirche. Da erfaßt sie ein Schwindel und sie sinkt ermattet auf einen der Prellsteine und hält sich die Stirn mit der Hand, halb bewußtlos. Und dann strebt plötzlich etwas an ihr hinauf, ein kleiner schwarzer Hund, in rasender Freude wendet und dreht er sich und macht ihr das Herz stocken, denn dort kommt – kommt – –

Sie ist nicht fähig, sich zu rühren, ihre Augen starren ihm entgegen. Langsam nähert er sich dem Thor; er sieht sie nicht, seine Blicke sind auf das gerichtet, was er im Arme trägt. In diesem Augenblick eilt der Kutscher an ihr vorüber, zwei Schritte vor Ditscha treffen sie zusammen – sie sieht, wie Rothe ihm das übergiebt, was er im Arm getragen, hört, wie der Mann „Gottlob! Gottlob!“ schreit, hört wie Rothe ihn ermahnt, so rasch als möglich ins Haus zu eilen, die Glieder des Kindes mit Schnee zu reiben, es nicht gleich ins warme Zimmer zu bringen. – – Eine Menge Menschen umringt plötzlich den Kutscher, Laternenschein streift bis zu ihr herüber, und im nächsten Augenblick entfernt sich alles dem Hause zu, nur sie ist nicht fähig, sich zu rühren. Ihre Augen hängen starr an dem geliebten Manne.

Er hat sie noch immer nicht gesehen. Er nimmt jetzt den Hut ab, wischt sich die feuchte Stirn, atmet auf und wirft einen langen Blick zu dem Hause hinüber, dann wendet er sich langsam um und geht.

Er hat nicht zu ihr gewollt, er sucht keine Versöhnung – er geht. – – –

„Kurt!“ schreit sie auf.

Er wendet sich um und schreitet ihr näher, die hochaufgerichtet dasteht. „Du?“ fragt er.

„Ich suchte Achim.“

Er steht mit abgezogenem Hut vor ihr, als erwarte er einen Befehl. Der Wind zerrt an seinem Mantel und an ihrem Kleide, der Schnee fällt zwischen ihnen, keine Seele, nur sie in dieser Einsamkeit der Heiligen Nacht, und kein Engel mit der Friedensbotschaft.

„Leb’ wohl!“ sagt sie endlich, als sie merkt, daß er stumm bleiben wird, „verzeihe, daß ich als junges herzenseinsames Kind

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_430.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)