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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


dabei aber doch gutmütigem Wesen. Man merkt es ihnen an, daß ihr Thalgrund nicht karg in der Ernährung seines Völkchens ist und daß sie weder in völliger Bergeinsamkeit verwildert noch auch durch allzuhäufige Berührung mit der großen Welt überfeinert sind.

Die wehrhafte Bevölkerung des Thierseeer Thales hatte schon zum öfteren Gelegenheit, ihre Heimat gegen eingedrungene Feinde zu verteidigen. Im Jahre 1703 warfen die Thierseeer bayerische und französische Heerhaufen zurück, und als die Franzosen hundert Jahre später, im Jahre 1805, durch den Hörhager Paß eindringen wollten, wurden sie ebenfalls von den Thierseeer Scharfschützen mit blutigen Köpfen zurückgewiesen. Nicht besser erging es den Bayern im Jahre 1809 am Paß Hörhag und am „Kiechlsteg“. Und wenn die besten Namen der tiroler Volkskämpfer genannt werden, dann steht immer auch Jakob Sieberer aus dem „Landl“ bei Thiersee mit in erster Reihe, ein Kampfgenoß Speckbachers, der als österreichischer Major auf dem Rückmarsch aus Italien verstarb.

Dieser kriegerischen Erinnerungen aber wollen wir hier bloß flüchtig gedenken, weil sie mit zum Gesamtbilde von Thiersee gehören. Was uns heute zunächst angeht, ist ja das Thierseeer Theater. Es ist unenträtselt, weshalb sich gerade in gewissen Ortschaften die eigenartige Freude an der dramatischen Kunst erhalten hat, deren Bethätigung bis in das ferne Mittelalter zurückreicht. Soweit die deutsche Zunge klingt, findet sich nirgeuds so viel volkstümliches Theaterspielen als im tiroler Unterinnthale und den angrenzenden bayerischen Landschaften. Die Unternehmer sind in der Regel ortsansässige Gesellschaften, die nicht um des Erwerbs willen, sondern aus reiner Freude an der dramatischen Muse ihr „Gspiel“ veranstalten. Die Stücke, welche aufgeführt werden, sind zur großen Mehrzahl aus den Federm ganz namenloser Dichter geflossen; einzelne entnehmen ihren Stoff der Bibel, die meisten sind Ritter- und Räuberstücke; immer aber haben sie einen moralischen Zug. Das Bauerngemüt will nämlich, daß auf dem Theater die Tugend belohnt und das Laster ordentlich bestraft werde, und da mit solchen Stücken nicht allein die Zuhörerschaft, sondern auch die Polizeibehörde und die Geistlichkeit am ehesten einverstanden ist, beherrschen dieselben die Bauernbühnen.

Ein anderes bezeichnendes Merkmal dieser Bauernstücke ist das Zurücktreten des weiblichen Elements. Darin bildet die tiroler Bauernkomödie den entschiedensten Gegensatz zum modernen französischen Drama, durch welches ja bekanntlich als roter Faden das „cherchez la femme“ hindurchläuft. Im tiroler Bauerndrama spielen meist nur wenige Personen weiblichen Geschlechts, sei es, weil die bäuerlichen Künstlerinnen in der That viel weniger dramatische Begabung zeigen als ihre männlichen Kollegen, sei es, weil das Volksbewußtsein einem vordringlichen Auftreten des schöneren Geschlechtes widerstrebt. Demgemäß sind auch Stücke, in welchen die Liebe zwischen unverheirateten Leuten zweierlei Geschlechts den Kern der dramatischen Verwicklung ausmacht, höchst seltene Ausnahmen. Eltern- und Kindesliebe, Gattenliebe, Erfüllung beschworener Gelübde, Reue über begangene Missethat, Habsucht und wilde Rachelust, Ehrgeiz und Herrschsucht, das sind die Seelenregungen und Lebensziele, aus welchen sich die tiroler Bauernkomödie aufbaut. Wer übriges einmal eine wirkliche Liebesscene auf einer solchen Bühne angesehen hat, wird den Bühnenleitern gerne zugestehen, daß sie recht haben, wenn sie dem Publikum möglichst selten Wiederholungen solcher Genüsse bieten.

Eine beliebte Zuthat zum Dramatischen bildet auch bei der tiroler Bauernkomödie die Musik, und es findet sich in jedem Orte, wo gespielt wird, auch ein oder das andere musikalische Dorfgenie, welches für diesen Teil sorgt. Abwechslung im Repertoire aber darf man nicht verlangen. Die Bühnen spielen gewöhnlich in jedem Jahre bloß ein Stück, und zwar während der Sommermonate jeden Sonntag nachmittag, bis die Herbstwaffenübungen die männlichen Bühnenmitglieder zu anderer Thätigkeit rufen.

Wie lange gerade das Theater zu Thiersee besteht, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Eine steinalte Frau erzählte uns, es sei schon gespielt worden, als sie noch ein Kind gewesen. Im Jahre meines Besuchs ist das einzige Stück des Thierseeer Repertoires „Ludwig der Heilige, religiöses Volksdrama in 5 Aufzügen von Karl Franz. Musik von Johann Obersteiner.“ Wir hätten uns gern den gedruckten Text des Stückes verschafft, erhielten aber die betrübende Auskunft, daß der Autor eben erst daran denke, das Werk drucken zu lassen.

Das Theater selber ist ein äußerst einfacher, hoher Bretterbau. Nur das Erdgeschoß enthält ein paar Fenster, neben denselben einige hölzerne Klappen. Wir nähern uns einem der Fenster, in der Hoffnung, daselbst ein Billet erhalten zu können. Aber da giebt es bloß Bierkrüge und hinter denselben ein Faß. Jenseit dieses Fasses aber sieht man in einem dunklen Garderoberaum einen gepanzerten Ritter und eine königliche reichgeschmückte Frauengestalt vergnügte Zwiesprache halten. Er bietet ihr den Krug, sie, ihrer königlichen Würde eingedenk, zögert eine Weile, hernach nimmt sie den Krug aber doch mit gnädigem Blick. Mittlerweile hat sich eine jener Holzklappen neben dem Fenster aufgethan, ein hemdärmeliger Kassierer erscheint und reicht uns aus einem Korbe, in welchem mit rührender Einfachheit Guldenzettel, Kupferkreuzer und Billetvorräte aufgestapelt sind, einen „ersten Platz“, worauf uns ein ebenfalls hemdärmeliger Logendiener unsern Platz anweist.

Purpurne Finsternis umschleiert zunächst unser Auge, denn man hat noch vor Richard Wagner das Prinzip durchgeführt, den Zuschauerraum zu verdunkeln. Ein sanfter Händedruck des Logendieners schiebt uns nach einer Stelle hin, wo wir, mit den Händen umhertappend, zuerst den Strohhut einer einheimischen Zuschauerin erwischen, hernach aber richtig die Lehne einer Bank finden, an welcher wir nach weiterem Umhertappen auch einen Sitz zum Herabklappen fühlen; zwar nur von Holz, aber doch leidlich bequem. Nun erst wenden wir den Blick der erleuchteten Bühne zu. Wir sehen das ganz neu gemalte Innere eines mittelalterlichen Festungsraumes, an einer Seite liegen, offenbar mausetot, wie Sardinen übereinandergeschichtet, einige menschliche Gestalten, die sich bei schärferer Betrachtung als getötete Sarazenen erweisen. Der ritterliche Kreuzfahrer aber, der sie erschlug, hält eben einen Monolog über sein Heldentum. Gleich der nächste Auftritt ist hochdramatisch, denn er zeigt uns den tapferen, aber verräterischen Ritter Simon von Coucy, den Bösewicht des Stückes, wie derselbe einen wohlgefärbten afrikanischen Feind zu Boden wirft, dessen schwarzes Leben mit seinem blanken Schwerte bedroht und ihn nötigt, seinen teuflischen Intriguen gegen die Kreuzfahrer, welchen er doch selbst angehört, zu dienen. Der Zweikampf dieser beiden ist mit einer gewissen technischen Virtuosität ausgeführt und zeigt uns, welche dramatischen Vorgänge die Lust und Stärke der Darsteller sind.

Den Verlauf des Dramas wollen wir indes nicht weiter verfolgen. Dasselbe beschäftigt sich mit dem unglücklichen Kreuzzug König Ludwigs des Heiligen nach Tunis, welcher nach der Geschichte mit dem Tode des Königs, der einer im Lager herrschenden Seuche zum Opfer fiel, und mit dem Rückzug der französischen Kreuzfahrer endete. Der Stoff ist für ein Bauerntheater gut gewählt, giebt er doch reichlich Gelegenheit zu allerhand ritterlichem Dreinschlagen, zur Entfaltung theatralischen Pompes, zur Anregung religiöser Empfindungen, ohne daß hierbei konfessionelle Gegensätze in Frage kämen.

Weit mehr als das Drama interessieren uns die Schauspieler und die Art, wie sie ihre Aufgabe durchführen. Es sind durchweg bäuerliche Dilettanten. Sie sprechen hochdeutsch, wie das Stück geschrieben ist, allerdings so, daß man bei jedem Satze den Tiroler ziemlich deutlich heraushört. „Main Könnik! Wüllstu den Hümel erstiermen? O Taiffell! Ich wül gern Battenstehle bei ühm ibarnemmen!“ In solchen dialektischen Scherzen geht der Dialog fröhlich fort, doch versteht man jeden Satz deutlich. Und man muß es den Mimen lassen: gelernt haben sie ihre Sache ganz tüchtig. Lampenfieber haben sie keines – wie sollten sie auch vor vier Lampen fiebern? Im Gegenteile, man nimmt den Eindruck mit, als ob jeder dieser strammen Burschen hinter der Coulisse mit Ungeduld auf sein Stichwort gelauert hätte, um dann mit vollem Behagen herauszutreten und sein Pathos loszulegen. Am besten spielen sie getragene Stellen; wo es gilt, auflodernde Leidenschaft bewegt zu geben, erscheint wohl etliches als ungelenk, namentlich sind die Arme und Beine ein etwas sprödes Material, von welchem nicht immer der richtige Gebrauch gemacht wird. Und wenn die ritterlichen Helden, ihre Schwerter schwingend, durch die Coulissen enteilen, um nach den Wällen von Tunis zu stürmen, fährt einem wohl eine Erinnerung an den Kriegstanz von Kongonegern durch den Kopf.

Was die Kostüme betrifft, so wurden unsere Erwartungen entschieden übertroffen. Historische Echtheit ist ja hier am wenigsten zu verlangen. Dafür zeigen sich die Kostüme farbig, recht farbig. Rot, gelb, grün und blau springt’s einem vor den Augen umher, daß es eine wahre Freude ist und man wird auch gar nicht gestört, wenn irgendwo unter einem Sarezenenkaftan ein Paar

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_446.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2021)