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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ich hab’s überstanden! Das wird er wohl auch. So werden wir auch diese Orchestermusik überstehen; – heiliger Gott! es ist wie im Cirkus. Als würde jetzt gleich Fräulein Thea auf drei ungesattelten Pferden – – Sie kratzen mir die Ohren entzwei. Wie die Dissonanzen schmettern! So werden wir auf Goethe vorbereitet …. Nur Mut! Sie hören schon auf. Das Zeichen. Goethe fängt an!

Der Vorhang ging in die Höhe; in diesem Augenblick kamen vor Volkmar zwei Hände zusammen – die Linke Tonis und Helenens Rechte – fanden sich, drückten sich geschwind und zogen sich wieder zurück. Man sah „Wilhelm“ auf der Bühne an seinem Pulte stehen; einen langen jungen Menschen, der seine Hüften bald sehr unruhig und merkwürdig ungeschickt bewegte. Er blieb auch nicht lange an seinem Platz, er begann auf der kleinen Bühne mit großen Theaterschritten umherzugehen; aber wie auf fremden, geliehenen Beinen. Doch mit besonderer Andacht hörte Volkmar seiner Rede zu; es überkam ihn wieder ein tiefes Staunen, wie naturwidrig manche Schauspieler sprechen können: jedes Wort etwas anders, als es der Dichter gemeint hat. Zum Glück erinnerte Wilhelm sich bald seiner „Schwester“ Marianne und sprach ihren Namen aus, mehrmals, immer lauter, bis sie ihn draußen in der Küche hörte. Die Thür rechts ging auf, und Marianne-Thea erschien.

Toni fuhr zusammen; Helene preßte beide Hände gegen die Brüstung; Rudolf that einen tiefen, langen Atemzug. Die nicht große, fein gebaute, anmutig weich gerundete Gestalt bewegte sich auf Wilhelm zu; mit einer träg wiegenden, gemütlich faulen Art zu gehen, die ihr ganz eigen zu sein schien; denn so etwas spielt man nicht, wenigstens eine so Junge nicht. Ihre Stimme ertönte weich und frisch, mit einem behaglich süddeutschen Anklang. Sie sprach natürlich, drollig; nicht wie eine Marianne aus dem vorigen Jahrhundert, sondern etwas „fin de siècle“, zwischen Schneidig und Urgemütlich, mit einem Anflug von aufgeklärtem Backfisch und von Münchner Kellnerin. Dazwischen kamen auch liebliche, süße, offenbar angelernte Töne; – von allem etwas! dachte Volkmar. Sie war aber in ihrem Hauskleidchen aus der Junggoethe-Zeit allerliebst anzuschauen. Ihre hellbraunen, mehr lustigen als poetischen Augen ruhten nie länger auf Wilhelm, als sie mußten; sie benutzten jeden „freien Augenblick“, um entweder zum Souffleurkasten zu fliegen, mit dem sie offenbar nicht zufrieden waren, oder geschwind einmal in den Zuschauerraum zu sehen. Ihr erster Ausflug galt, wie Volkmar bemerkte, der Fremdenloge gegenüber, in der zwischen zwei jungen Offizieren ein höchst elegant gescheitelter und gekleideter Civilist mit schöngekräuseltem blondem Vollbart saß. Das ist Fellenberg! flüsterte Toni fast in dem nämlichen Augenblick. Rudolfs Brauen zuckten. Die kurze Eingangsscene Mariannens war übrigens bald ausgespielt; „jetzt verbrenn’ ich die Tauben!“ sagte sie mit einem drollig herzhaften Zusammenschlagen ihrer kleinen Fäuste und ging zu ihrer Küche zurück. Ein lebhaftes Händeklatschen begleitete sie. Die Backfische klatschten feurig mit; dann fühlte Volkmar etwas an seinem Rücken; er rührte sich aber nicht. Toni und Helene hoben hinter ihm die versteckten Blumensträußchen empor, zeigten sie einander, wie um sich zu sagen: wenn am Schluß des Stückes geklatscht wird, dann fliegen die hinunter!

„Fabrice“ kam, Marianne kam wieder, das Schauspiel ging weiter und weiter; Volkmar hörte bald wenig mehr von diesem verneudeutschten Goethe, er beobachtete seinen Sohn. Das junge ernste Profil mit dem noch flaumigen Bärtchcn war fest auf die Bühne gerichtet; der Kopf hatte sich vorgestreckt, sein ganzes Leben schien da unten zu sein. Es war, als söge er ein wunderbares Glück mit den leise erzitternden Nüstern ein; wie wenn sich ein Antlitz ganz, in den Wohlgeruch eines Straußes oder in einen Becher mit starkduftendem Wein versenkt. Fast immer, wenn Marianne-Thea zu reden begann, hob sich sein Kopf ein wenig; so oft sie lächelte, spielte eine leichte Bewegung auch um seine Lippen. Nun ja – so war ich wohl auch! dachte Volkmar. Doch die innere Heiterkeit schwand ihm mehr und mehr; allmählich beklemmte ihn doch dieser tiefe Ernst des Glücks in dem weichen Jünglingsgesicht. Er freute sich, als das Stück zu Ende ging. Marianne stieß einen „seelenvollen“ Schrei aus, der ihm aber mehr die Nerven als das Herz bewegte; „Wilhelm,“ rief sie am Halse des jungen Schauspielers mit den fremden Beinen, „Wilhelm, es ist nicht möglich!“ und während der Vorhang vor ihr niederging, begann schon im ganzen Hause schallendes, stürmisches Klatschen.

Rudolf erwachte, gleichsam widerwillig, wie aus einem Traum, und seine großen Hände begannen mächtig gegeneinander zu schlagen; die kleineren der Mädels bemühten sich, es ihm gleichzuthun, einer von Tonis Handschuhen platzte. Es kam aber eine rätselhafte Unruhe über die beiden jungen Geschöpfe; sie rutschten auf ihren Stühlen, sie zischelten hastig hinter des Onkels Rücken, als der Vorhang wieder aufging und die hervorgeklatschte „Himmlische“ erschien. Tonis Gestalt hob sich ein wenig, eines ihrer drei Sträußchcn erschien in ihrer rechten Hand; ihr versagte aber der Mut, vor all diesen Menschen in dem vollen Haus ihre Huldigung vor Theas Füße zu „schleudern“. Helene rührte sich gar nicht; sie schüttelte nur beklommen den Kopf. Plötzlich drückten beide ihren Strauß in Rudolfs Hand; Toni stieß ihn an. Du! flüsterte sie. Wirf Du!

Der Vorhang war wieder unten, doch er hob sich nochmals, Thea stand wieder da, lächelnd, sich verneigend, dankend. Rudolfs Träumeraugen hatten nun erst begriffen, was die Backfische wollten; mit raschem Entschluß, obwohl ebenso rasch errötend, warf er erst das eine, dann das andere Sträußchen zu Thea hinunter. Das zweite traf sie an der Brust und fiel dann, wie in reuiger Verehrung, vor ihre Füße. Die junge Schauspielerin verwunderte sich wie ein Vogel; ihr Blick flog hinauf, sie erkannte nun offenbar ihren Bogenläufer. Sie lächelte ihm anmutig zu, den Kopf ein wenig neigend. Die Röte in Rudolfs Gesicht stieg bis an die Schläfen. Er ermannte sich aber geschwind; mit dem redlichen Blick seiner guten Augen deutete er nach links, auf die eigentlichen Geberinnen, er wies auch, etwas unbeholfen, mit der Hand auf sie. Nun lächelte Thea sehr lustig; mit raschem keckem Humor verbeugte sie sich auffallend, tief, wie vor höchsten Herrschaften. Toni und Helene dachten zu vergehen; sie schlossen beide die Augen, um nicht zu sehen, daß man auf sie sah. Sie hörten nur neues, wildes Klatschen; das brach los, weil die Schauspielerin die Sträußchen aufgehoben und an ihre Lippen gedrückt hatte. Noch einmal rauschte der Vorhang, nieder, hinauf und hinab. Endlich ward es still.

Ich kann nicht mehr! seufzte Toni vor Glück, eine Hand mit der andern zerrend.

O Gott! hauchte Helene.

Das war zu viel! Ich kann nicht mehr! wiederholte Toni. – O, wie süß sie war. Und wie hat sie gespielt!

Vollendet! flüsterte Helene.

Rudolf sagte nichts. Er starrte noch eine Weile auf den Vorhang, den ausgeblichenen, phantasielos häßlichen, als läge der jetzt wie ein Grabtuch über einem märchenhaften Glück. Langsam, zögernd wandte er sich endlich nach links, und seine Augen strahlten den Vater an. Wie hat sie Dir gefallen? fragte seine weiche Stimme.

Volkmar lächelte freundlich. Was soll ich da sagen? Meine Freunde, verlangt keine Aeußerungen von mir; so wie Ihr kann ich nicht mit. Ich ziehe mir nur Haß und Verachtung zu, wenn ich –

Nein, Vater, unterbrach ihn Rudolf, immer mit gedämpfter Stimme; sag’ uns, was Du denkst!

Gut; das will ich denn also thun. Fräulein Thea sah sehr angenehm aus und hat frisch drauf los gespielt; nicht wie ihr Wilhelm in Theatertönen. Was sie noch nicht kann, mag sie ja noch lernen. Sie kokettierte nur zu viel mit dem Souffleur; was geht der Souffleur sie an. Und dann sprach sie nicht lauter Goethe; es war auch einiges von Thea Schüler dabei.

Woher weißt Du das, Onkel? fragte Toni kleinlaut.

Dieses Stück kenn’ ich fast auswendig, meine gute Toni. Ich höre wenigstens jedes falsche Wort.

Nu ja, murmelte das Mädchen; ein Litteraturprofessor wie Du!

Auch Schauspielerinnen sollten ihre Rollen –

Verzeih’, Vater, sagte Rudolf leise. Du hast uns doch öfter gesagt: diese armen Schauspieler an den kleineren Theatern, die eine Rolle nach der andern „fressen“ müssen – manchmal über Nacht –

Ja, ja; aber die Marianne in Goethes „Geschwistern“! Und beim Benefiz!

Die drei jüngeren waren eine Weile still; als wäre ihnen etwas Erde in den Himmel gekommen. Toni, die jüngste und die trotzigste, beugte sich endlich hinter Volkmars Rücken zu Helene hinüber und flüsterte geschwind: Sie hat aber doch vollendet gespielt!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_470.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2021)