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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

3.

Es folgten noch zwei einaktige Lustspiele; eines von der beliebten Art der Verwechslungsstücke, wo eine Hauptperson für eine andere gehalten wird, als die sie eigentlich ist (in der vorletzten Rede klärt es sich dann auf); das zweite war eine Bauernkomödie aus den Bergen, mit Sommerfrischlern gemischt. Fräulein Thea zeigte in beiden Stücken ihre wahre Stärke: ihre ansteckende, gemütliche Fröhlichkeit, durch ein gewisses süßes Phlegma gewürzt, und ihre kindlich unbefangene Freundschaft mit dem Publikum, als spielten die alle mit. Sie teilte jetzt ihre Vorzugsblicke zwischen der rechten und der linken Fremdenloge; so oft Toni und vielleicht sonst noch jemand auf den Herrn von Fellenberg da drüben eifersüchtig wurde, flog ein ausgleichender, unwiderstehlich vergnügter Blitz aus den Rehaugen herauf. Die Zuschauer nahmen das hin, als könnt’ es nicht anders sein, als sei das eben die Thea; das „fidele Madel“ von der Isar riß sie alle mit. Als die Verwechslungskomödie zu Ende ging, warf Rudolf wieder zwei von den kleinen Sträußchen. Wieder dankte Thea mit einer drollig großen Gebärde. Die Backfische hielten diesmal mutig ihre Augen offen; aber hinter dem Onkel flochten sie ihre Hände ineinander und drückten sie, bis der Lärm vorbei war.

Im dritten und letzten Stück stieg die „Himmlische“ noch einen Himmel höher: sie war Sennerin im Hochgebirge, sie ließ alle Töne ihrer Heimat los, sie sang Schnadahüpfl, sie juchezte, sie jodelte, endlich tanzte sie, steierisch, bayerisch, alles. Es stand ihr gar gut. Der Beifall ward wild und toll, als der Vorhang fiel; Volkmar war, als hätte er seine Landsleute noch nie so gesehen. Toni trommelte mit den Füßen, um ihr Herz zu entladen. Rudolfs Lippen zuckten von einem ruhelosen Lächeln. Als nun die große Blumenhuldigung begann und aus dem Orchester mächtige Sträuße und Blumenkörbe zur Bühne hinaufgereicht und geworfen wurden, aus Herrn von Fellenbergs Hand ein riesiger Lorbeerkranz mit goldbedruckten Schleifen der Beneficiantin zu Füßen flog, jetzt kam die große Ueberraschung: auch Rudolf stand auf, und hinter den letzten Sträußchen der Backfische schleuderte er einen Lorbeerkranz hinab, gegen den der Fellenbergsche zur Brezel wurde. Man hatte ihn ihm heimlich im Zwischenakt aus der Blumenhandlung gebracht. Ein Blick wie ein Sonnenstrahl dankte ihm dafür … Eine gute Weile tobte noch der Beifall; endlich starb er hin, wie alles. Thea erschien nicht mehr. Das Haus leerte sich. Auch die vier gingen hinaus, in die kalte Nacht.

Schneidig! stieß Toni hervor und drückte Helenens Arm. Helenens sanfte graue Augen funkelten; schneidig! wiederholte sie. Arm in Arm gehängt gingen sie voraus, um sich frei zu sprechen, um dieses neue Wort, das sie für die Himmlische gefunden hatten, noch so oft wie möglich der Nachtluft anzuvertrauen. Als sie vor Helenens Hausthür Abschied nahmen, hauchten sie sich statt des „Gutenacht“, wie ein heimliches Losungswort, ein allerletztes „Schneidig!“ zu.

Rudolf sprach fast kein Wort. Er sah zu den Sternen auf oder vor sich hin, er schien diesen ganzen festlichen Abend in seiner stummen Seele nochmals zu erleben. Auch zu Hause, beim Nachtmahl mit dem Vater und der Tante – Toni war oben bei ihrer Mutter – saß er schweigsam da. Erst als die Tante Sophie sich erhoben hatte und nach ihrer Gewohnheit ins andere Zimmer ging, trat Rudolf vor den Vater hin, und mit all der liebreichen Offenherzigkeit seiner leuchtenden Augen lächelte er ihn an. Hätt’st Du ein bißchen Zeit für mich? fragte er. Hab’ Dir was zu sagen. Es ist nur für Dich.

Volkmar nickte seinem Jüngling zu, stand auf, und einen Arm auf dessen Schulter legend – prachtvolle Muskeln! dachte er mit Vaterstolz – führte er ihn in sein Arbeitszimmer. Die wenigen Stühle dort waren, wie gewöhnlich, mit großen Büchern und Atlanten belegt; er räumte einen ab, für den Sohn, und warf sich auf die Chaiselongue an dem letzten Fenster. Du kannst Dir wohl denken, begann er das Gespräch, daß ich mir denken kann, was Du sagen willst.

Rudolf nickte lächelnd; die Brust hob sich ihm aber stark. Vater! stieß er heraus. Ich sag’ Dir ja alles. Ich hätte auch schon früher – – wenigstens durch mein Tagebuch – –. Aber Du weißt ja: das Tagebuch war lange voll. Du hast es, es liegt bei Dir. Ich wollt’ immer ein neues anfangen; ich komme nicht mehr dazu. Für diese Ergüsse bin ich, wie es scheint, doch zu alt geworden. … Kurz – Vater! Diese Thea!

Das dacht’ ich, sagte Volkmar, fast mitleidig lächelnd; wie ein Vater lächelt, der zugleich ein Freund ist. Hast das etwas dumm gemacht, lieber Junge: Dich vor dem mündlichen Examen zu verlieben –

Schon vor dem schriftlichen, Vater! verbesserte ihn Rudolf.

Nach dem Examen, als „Maultier“, da hätt’st Du wenigstens freie Zeit; jetzt ist es der reine Raub! Was hilft es; Du mußt nun durch. Mußt zeigen, daß Du ein Kerl bist, der zugleich unter dem Brustkasten schweren Unfug treiben und unterm Schädel die „reine Vernunft“ sein kann! – Eine Schauspielerin; da haben wir’s. Das kommt wie die Masern. Ich hab’s auch gehabt; und noch früher als Du. Wann geht sie wieder weg?

Diese Leidenschaft?

Nein; die Thea mein’ ich. Aber „Leidenschaft“ – was für ein Wort. Du bist wieder einmal, nach alter Gewohnheit, verliebt. Warst aber aus der Gewohnheit gekommen, hattest als Oberprimaner ein ganz freies Herz; nun wunderst Du Dich, was für ein neues, sonderbares Ding das ist. Wann geht sie wieder weg?

Ach, ich weiß nicht, Vater, sagte Rudolf, mit düsterem Blick auf die Wand. Ich mag nicht daran denken. Es ist – nicht wie früher. Verzeih’ mir. Es wird Dir – Kummer machen, fürcht’ ich. So war ich noch nie –!

Er unterdrückte das Wort „verliebt“, das noch folgen sollte. Es schien ihm zu schwächlich, zu verbraucht, zu heiter zu sein für das, was er heute fühlte. Ein langer Atemzug, den er that, befreite ihn doch nicht. Vater –! seufzte er tief.

Volkmar schwieg einige Augenblicke, doch etwas betroffen. Er faßte sich aber, seinem verstörten Jüngling mit den Augen zulächelnd, stand auf und ging zu seinem Schreibsekretär. Aus einem verschlossenen Fach, das er öffnete, nahm er ein schön gebundenes, aber offenbar vielbenutztes Buch, das seinen eigenen Schlüssel und auf der oberen Messingklammer des Schlosses eine Inschrift hatte: „Rudolfs Tagebuch“. Er trat damit zur Hängelampe, lehnte sich an den Tisch voll Bildermappen und Albums, der darunter stand, und schlug das Tagebuch auf. Ueber so ein Buch geht nichts! sagte er heiter. Darin kann man die Geschichte seines Herzens studieren wie in einem Erddurchschnitt: all die abgelagerten Schichten liegen da übereinander. Heut’ nachmittag, als ich dachte: holla, holla! da hab’ ich wieder einmal lange darin gelesen. Als Du anfingst, es zu schreiben, warst Du – laß sehen – warst Du zwölf Jahre und sieben Monate alt – und schon nicht zum erstenmal in einer „Leidenschaft“. Ich hab’ hier und da ganz zarte blaue Striche gemacht … Soll ich Dir Einiges vorlesen?

Rudolf rückte auf seinem Stuhl. Es nützt ja nichts, Vater, sagte er, die furchtbar ernsten Augen auf den Boden heftend. Jetzt ist’s ja ganz anders. Damals war ich ein Kind – und jetzt –

Hm! murmelte Volkmar; sprach aber nicht aus, was er dachte, und die vierte Seite aufschlagend, fing er sogleich an: Hör’ nur ein wenig zu! „Ich habe aufgehört, die schöne Else von drüben zu lieben. Mein Herz wendet sich zu einer andern Blume, auch eine Else; wenn sie mich doch liebte! – – An Else habe ich ein Gedicht gemacht, es ist an eine Tote in meinem Herzen. – – Auch sonst habe ich gedichtet: ‚Das Lied von Lust und Liebe‘…“ Schau den Schwerenöter!

Aber lieber Vater –

Hör’ zu! – Etwa einen Monat später – es fehlt hier das Datum – in einer Art von Geschwindstil: „Besondere Ereignisse: Zeitung gegründet. Else oft gesehen, sie mich wohl auch lieben. Else heißt jetzt ‚Cimon‘. Herausgekommen, daß ein andrer auch Else liebte. Er nannte sie ‚Epaminondas‘. Er hat sie mir abgetreten.“ – Wieder etwas später, zur Pfingstmarktszeit: „Ich fuhr mit Else im Schiffskarussell. Wir unterhielten uns prachtvoll. Wir sind wie für einander geschaffen. Und lieben uns gegenseitig.“ Und hier im Herbst, nach einer kleinen Stockung der Gefühle: „Götterkind! Engel! Ich bin in Dich ganz wahnsinnig verliebt!“ Vier Ausrufungszeichen. In demselben Monat, da: „Mir ist zu Ohren gekommen, daß Dimitri von Gröben und meine Geliebte Else sich Liebesbriefe schreiben. Ist das wahr, so wird Gröben zu Weihnachten furchtbar verhauen. Ich will ihn aber auf jeden Fall verhauen!“

Bitte, Vater, ein Wort! sagte Rudolf, da Volkmar einige Augenblicke schwieg. Hat sie Dir denn gar nicht gefallen?

Eure Thea? – Warum nicht; gewiß hat mir an ihr allerlei gefallen. Eine gefährliche, reizende – – Sie hat ja auch zwei unsrer hoffnungsvollsten Backfische um ihren Verstand gebracht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_471.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2021)