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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.

     (2. Fortsetzung.)

4.

Als Volkmar am nächsten Nachmittag vom Spaziergang heimkam und seine Treppe hinaufstieg, sah er Tonis schwarze Strümpfe oben über dem Treppengeländer vorbeifliegen, vorwärts und zurück. Sie stand in den Turnringen, die auf seinem Vorplatz an zwei langen Gurten von der Decke herabhingen, und schaukelte sich darin; geschickt und mit kräftigem Schwung, ihrem Vetter Rudolf nacheifernd, freilich ihn nicht erreichend, denn der „lange Bengel“, wie sie ihn zuweilen nannte, konnte sich so hoch hinaufschwenken, daß er mit den Fußspitzen an die Decke fuhr, die denn auch Schrammmen und Narben hatte wie ein Corpsstudentengesicht. Sowie Toni den Oheim auf der Treppe sah, stieß sie einen vergnügten Schrei aus. Wart’ einen Augenblick! rief sie dann. Bitte, einen Mojiment. Ich muß mit Dir sprechen!

Sie flog noch eine Weile, aber langsamer; Volkmar war unterdessen oben angelangt, fing sie mit beiden Armen auf und hob sie herunter. Auf einmal sittig geworden – die kleine Wilde wechselte immer in raschen Sprüngen – fragte sie sehr bescheiden, mit fast süßer Stimme: Hätt’st Du ein bißchen Zeit für mich, Onkel? Höchstens zwei Minuten?

Für Toni Götz werd’ ich doch wohl etwas Zeit haben, antwortete er, an ihrem braunen Zopf mit gemütlicher Zärtlichkeit zupfend. Eh ich wieder an die Arbeit gehe, sag’ mir, was Du auf der Brust hast; – schau! es guckt Dir ja schon da oben aus den Augen heraus. Bist Du wieder einmal mit „Mutting“ uneinig, und ich soll Dir helfen?

Furchtbar klug bist Du doch, Onkel Albert! sagte das Mädel; ihr bewunderndes Lächeln war aber auch nicht dumm. Ja, es ist so ’was ... Komm, ich nehm’ Dir den Mantel ab; den schönen, olivengrünen Radmantel, Deinen Salzburger; so schön hat hier keiner einen. Ach Gott, Du denkst wohl, ich will Dir schmeicheln, damit Du mir beistehst; nein, Onkel, es ist wirklich wahr. Helene ist in Deinen Mantel förmlich verliebt ... Soll ich mit in Dein Zimmer gehen?

Volkmar schob sie stumm in die Thür, die ins Speisezimmer führte, und durch das hindurch bis zu seinem Schreibtisch. Er setzte sich, stellte die schlanke Knospengestalt zwischen seine Kniee und legte beide Arme um sie. Also heraus damit, sagte er mit seinem herzlichen mutmachenden Bariton. Also Mutting will nicht so wie Du?

Sie schüttelte den Kopf. – Diesmal ist’s so ’ne große Sache, Onkel ... Du, erst sag’ mir eins; bitte, bitte. Wie alt war wohl der jüngste Mensch, als er sein erstes Stück schrieb, das wirklich auf dem Theater gespielt wurde?

Ueber diesen Satz mußte Volkmar lächeln. – Du wirst mich jetzt verachten, Toni, gab er dann zur Antwort, ich muß Dir aber offen sagen: das weiß ich nicht. Von Mozart hat man eine Oper, die jetzt wieder gespielt wird, aus seinem zwölften Jahr; aber wie es mit den Schauspieldichtern steht, ist mir nicht bekannt.

Aha! stieß Toni triumphierend hervor. Aus seinem zwölften Jahr!

Das war Mozart, das Wunderkind. So junge Schauspieldichter hat’s wohl sicher nicht gegeben –

Nicht? Meinst Du, nicht? – – Na, das ist dann auch egal. Schreiben wollen wir’s doch!

Was, mein Herz?

Ein Theaterstück.

Wer?

Helene Ammann und ich.

Ihr zwei? Ein Theaterstück?

Bitte, nicht so lächeln, Onkel! bat Toni und ward plötzlich rot. Das mußt Dü nicht thun; Du bist ja doch nicht wie die alten Damen; Du verstehst doch alles. Wir möchten so gern für Thea – – Ach nein, nun sei einmal ernst!

Ich bin furchtbar ernst, Toni. Das siehst Du ja doch. Was möchtet Ihr für Thea –?

Etwas thun, etwas leisten, Onkel. Seit gestern abend geht uns das im Kopf herum, Helene und mir. Heut’ morgen in der Schule haben wir’s uns gesagt; beide ganz dasselbe, denk’ Dir! Ein großes Stück in fünf Akten, mit einer wunderachönen Rolle für Thea! Helene hat auch schon einen Stoff gewußt; aus der Geschichte – aber natürlich, das meiste wird Erfindung. Und Theas Rolle wird ganz Erfindung. Helene hat auch gleich ein Blatt Papier genommen und schon in der Schule, während der französischen Stunde – – das mußt Du aber nicht weitersagen, Onkel –

Ich? Wie das Grab!

Da hat sie schon Notizen gemacht . . . Helene meint, es muß glücken: wenn wir beide es zusammen machen – und sie ist schon vierzehn alt ... Mozart war erst zwölf!

Ja, aber um Vergebung, meine Freunde, dafür war es Mozart –

Versuchen wollen wir’s doch! – Find’st Du das zu frech? – Sag’ nicht, Du find’st es zu frech. Du bist selber Dichter; und hast so früh angefangen; noch viel früher als wir. O, Gott, wenn wir eines Tages zu Thea kämen, mit unserem fertigen Stück ... Was sie dann wohl sagt. Mich rührt dann der Schlag!

Das wär’ unpraktisch –

Süßer Onkel! sagte Toni plötzlich und spielte ganz leise in seinem ergrauenden Bart. Morgen könnten wir anfangen, ’s ist Sonntag; und heute nachmittag, bei Helene, haben wir uns die Hauptsachen auch schon ausgedacht. Sie ist die Gelahrte, weißt Du; ich bin die Schneidige! Aber als ich nun damit zu Mutting komme, so lacht sie mich aus; will nichts davon wissen. „Ihr schnappt wohl noch über,“ sagt sie. Wahrhaftig, das hat sie gesagt. Das ist doch feudal, daß die Muttings soviel älter sind und uns darum so oft nicht verstehen!

Was ist es? fragte Volkmar.

Feudal! – Ach, das wundert Dich. Wir sagen in der Schule immer feudal statt fatal. – Nun sei Du ’mal recht nett und recht gescheit, Herr Professor Volkmar. Sprich für uns als Kollege, als Dichter. Sag’ Mutting, daß wir für eine heilige Sache kämpfen. Kurz, daß es ein Unsinn ist. Wenn sie ’s uns verwehren will, mein’ ich. Wenn Du mich wirklich ein bißchen lieb hast, o dann thu’s! dann thu’s!

Ihre Hände lagen auf seinen Armen, sie drückte sie zart, doch von Herzen. Volkmar lächelte sie an, betrachtete sie eine Weile stumm; es war so eine Freude, in dieses lebhafte, fast geistreiche Gesichtchen zu sehen, mit dem treuherzigen Blick. Auch über Dreizehnjährige geht doch nichts! dachte er bei sich. Und die da ist gut! – Die bleibt mir doch wenigstens, wenn mein Junge fortgeht ...

Er fühlte wieder einen Schlag auf die Brust, inwendig. Im nächsten Augenblick durchfuhr ihn aber eine Phantasie: wenn dieser Junge dann heimkäme, nach Jahren, als fertiger junger Mann, und dieser Backfisch stünd’ als fertige Jungfrau da, „in der Jugend Prangen“. Und sie würden etwa gar ein Paar ... Jedenfalls ein holdes, dachte er; wenn sie beide so fortwachsen ... Statt daß ihn jetzt diese Thea – –.

Er streichelte Tonis durchglühtes, ungeduldig wartendes Gesicht. Was Thea alles anrichtet! sagte er. Also ein Stück für sie! – Aber sei nur ruhig. Wenn der Geist Euch treibt ... Ich will zu Deiner Mutter hinaufgeheu, jetzt, sogleich. Ich will mit ihr reden!

Und Du glaubst, daß Mutting –?

Ja.

Glaubst Du’s wirklich, Onkel?

Ich bin überzeugt.

Er ist überzeugt! Wie süß!

Sie packte ihn und küßte ihn. Dann ließ sie ihn los, sprang im Zimmer umher, brach in einen Triumphgesang aus und warf ihre langen, dünnen Arme in die Luft.

Plötzlich wurde sie wieder ernst und kam zu ihm zurück. Indem sie mit beiden Händen über seinen Rockkragen strich, als müsse sie ihn glätten, sagte sie lieblich schmeichelnd, aber mit ihrer bedeutendsten Miene: Du gelahrtes Haus, wenn Du die Mutter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_486.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2023)