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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

dahinfuhren. Die wenigen Menschen, die sich auf der Straße fanden, hatten Mühe, sich gegen diese Kobolde der Luft zu behaupten; Rudolf sah, wie sie kämpften, und lachte.

Was konnte ihn heute anfechten? Nichts. Sein Weg ging zu Thea …. Gestern, beim Abschied auf dem Eise – nach der dritten „Bogenlehrstunde“ – hatte sie ihm mit entzückendem Lächeln gesagt: „Besuchen Sie mich doch, Herr Meister. Kommen Sie morgen mittag, wenn wir beiden Sklaven freigelassen werden: Sie aus der Schule, ich von der Probe. Komm’ ich etwas später, nun, dann warten Sie!“ – Ja, ich werde warten, dachte er, indem er, sich gegen die Winde wie gegen bellende und schnappende Hunde wehrend, auf den festen Beinen dahinschritt. O du lustige, du göttliche Thea, ja, ich werde warten … Er pfiff, er sang vor sich hin; auch der wirbelnde, dichte Schnee gefiel ihm, es war, als wenn er ihn und sein süßes Geheimnis vor der Welt versteckte. Nein, so hatte er noch nie gefühlt; noch nie … Von der Seligkeit der Freude, der Liebe, der Erwartung feuchteten sich seine Augen. Noch nicht neunzehn Jahre, und eine geniale, gefeierte, angebetete Künstlerin hatte zu ihm gesagt: „Besuchen Sie mich doch, Herr Meister!“ – Er stand still und lachte.

Endlich hatte er ihre Straße und ihr Haus erkämpft; es war nur wenige Schritte vom Theater entfernt, vor dem alten Thor. Ein kleines, unbedeutendes Haus; auf einer etwas engen, hölzernen Treppe stieg er zu ihrem ersten Stock hinauf und sah – wie wunderlich ward ihm zu Mut! – die Worte „Thea Schüler“ auf der kleinen Messingtafel vor ihrer Thür. Auf sein Klingeln öffnete ihm eine junge Magd, mit schlotteriger Frisur, aber freundlichem, vergnügtem Lächeln. Der noch nie gesehene junge Herr schien ihr nicht zu mißfallen. Sie werden wohl erwartet, sagte sie, noch ehe er seinen Namen hatte nennen können.

Ja; Rudolf Volkmar! antwortete er fast tonlos, weil er viel zu wenig Atem hatte.

Sie lächelte wieder und nickte. Dann möchten Sie nur gefälligst eintreten; das Fräulein kommt gleich. Im letzten Akt, sagt sie, hat sie nichts zu thun. Hier dauern ja auch die Proben nicht lange. Nur ein bißchen Geduld!

O, ich habe Geduld, sagte Rudolf herzlich, zutraulich, wie zu einer Freundin. Wie kindisch! dachte er dann und errötete; nahm sich aber zusammen und trat möglichst vornehm ungezwungen ein. In einem kleinen, halbdunklen Vorzimmer legte er seinen schneebedeckten Mantel ab; dann ging er durch eine zweite Thür. Das ist Theas Wohnzimmer! sagte er sich, sehr enttäuscht. Es war eine echte Mietstubc, kleinbürgerlich, mit wohlerhaltenen, aber geschmacklosen Möbeln; kein Teppich auf dem Fußboden, die gewöhnlichen, weißen, gewaschenen Vorhänge an den kleinen Fenstern. Nur die Blumen von der Benefizvorstellung, nun erbärmlich welk, und allerlei aufgehängte Lorbeerkränze mit ihren langen Atlasschleifen schmückten das Gemach. Auch einige Theabilder, große und kleine, grüßten ihn von der Wand. Auf dem Schreibtisch standen eingerahmte Photographien, lauter bärtige; die meisten nur mit Schnurrbärten; darunter Herrn von Fellenbergs schöngekrauster Vollbart. Rudolf fühlte einen Ruck in der Brust …

Das lächelnde Dienstmädchen hatte ihn verlassen; er sah etwas ruhiger um sich her und erkannte nun an der linken Wand seinen Lorbeerkranz: die prahlerische Größe verriet ihn, deren er sich heute schämte. Wie ward ihm aber gerührt zu Mut, als er auf dieses grüne „Wagenrad“ mit liebevoller Hand, rund umher, die sechs Sträußchen der Backfische gesteckt oder gebunden sah. Wie lieb das ist! dachte er. Ja, die echte Thea … Und wie klein und wie dumm von mir, daß ich es hier zu ärmlich finde. Das spricht ja wie ein Buch für sie. „Leichtfertig!“ sagen unsre elenden Spießbürger. Wär’ sie leichtfertig – sie mit ihrem Liebreiz – so könnt’ sie in einem Palast wohnen, zwischen lauter Marmor und Gold. Aber da lebt sie mit ihrer großen Kunst, ihrer kleinen Gage, und dem fidelen Struwwelpeter … O ihr erbärmlichen Philister. O Thea! Thea!

Jetzt hörte er draußen ihre weiche, klangvolle Stimme; er fuhr fast zusammen. Er hörte, wie sie den Schnee von ihrem Mantel schüttelte, mit den Füßchen stampfte, um ihn abzutreten. Dann öffnete sie die Thür und in ihrem schlichten Probenkleid, die braunen „Ponies“ auf der Stirn vom Wind zerzaust, das süße Gesicht etwas verfroren, entfärbt, aber doch noch reizend, kam sie auf ihn zu. Sie lächelte flüchtig und gab ihm die Hand. „Pfui!“ sagte sie dann und stieß einen tiefen, zornigen Seufzer aus, wie ein bestraftes Kind.

Ja, dieses abscheuliche Wetter, Sie Arme –

Ach, was geht mich das Wetter an! fiel sie ihm ins Wort. Ein Hundeleben! – Ja, ja, ’s ist ’n Hundeleben. Ein wahres Hundeleben! Dieser Schuft. Dieser Regisseur. „Lernen Sie nur Ihre Rollen besser … Verklagen Sie mich nur beim Direktor; der wird’s Ihnen sagen … Ja, ja, mein Fräulein, hier wird gearrrbeitet und nicht geschnäbelt“ … O Du Lausbub. Wie gern hätt’ ich dem gesagt, was der Münchener Schusterbub zu dem bellenden Köter sagte: „Du Malefizviech, elendig’s, miserablig’s!“

Rudolf starrte sie fassungslos an. Ich – verstehe nicht, stammelte er, als er Worte fand. Ich dachte, im Theater trägt man Sie auf Händen – vergöttert Sie –

Vergöttert mich! lachte sie auf. Na ja – manchmal schon – wenn ich ihnen ein Bombenhaus gemacht, oder ein verlorenes, quatsches Stück gerettet habe – dann bin ich die herrliche Thea … Aber wer kann denn immer volle Häuser machen; wenn ein Esel von Direktor und ein Heuochs von Regisseur die blödsinnigsten Schmarren geben – und mit was für Leuten! So ein Affentheater war ja noch nicht da! – Und dann heißen sie mich ’ne Schuldenmacherin, ’ne Verschwenderin; die immer Vorschüsse und Zulagen will … Wovon soll man denn leben. Von Hafergrütze leb’ ich nicht. Von Lorbeerblättern auch nicht. Auch von Dem seinen Grobheiten nicht … „Ja, ja, hier wird gearrrbeitet, gearrrbeitet“ … O du Hundeseele!

Sie nahm ein Kissen vom Sofa, da sie eben daran vorbeiging, und warf es gegen die Wand, als schleudre sie es dem Regisseur an den Kopf. Dann stampfte sie mit den Füßen, daß die bärtigen Photographien auf dem Schreibtisch – auch der schöngescheitelte Fellenberg – erzitterten und zusammenstießen. Könnt’ ich ihn derschlagen! rief sie aus; ihre Augen blitzten.

Temperament hat sie genug! dachte Rudolf, dem aber doch beklommen und weh ums Herz war. Da sie sich nun aufs Sofa und dort in die Ecke warf, wagte er langsam, zögernd, vor sie hinzutreten. Liebes, gutes Fräulein! brachte er heraus, in Mitleid vergehend.

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Was für ’ne weiche Stimme Sie haben, sagte sie sanft, aber vor Aufregung zitterte ihr Atem. Und so gute Augen … Ach Du lieber Gott, er war auch ganz blaß geworden, als ich das von den „Lorbeerblättern“ gesagt hatte; daß ich nicht davon leben kann. Ja doch, Sie wurden blaß! Es war rührend. Und ich freu’ mich ja doch noch heut über Ihren Lorbeerkranz; da hängt er; mit den sechs kleinen Mädels. Aber ich hab’ dies Leben satt! Dieses Hundeleben! Ich will mich nicht mehr anschreien lassen! Ich will nicht mehr um Vorschüsse betteln bei dem Sklavenhändler! Ich will Freiheit! Freiheit!

Sie fand noch ein Kissen auf der Sofalehne und warf es dem ersten nach.

Wie anders – – wie anders hatt’ ich mir das alles gedacht, stieß der von Kummer betäubte Rudolf nach einer Weile hervor. Ihre Kunst, dacht’ ich … Und so gefeiert – und noch so jung. Ach, Sie werden bald beim ersten Theater ganz, ganz oben sein und über dieses „Affentheater“ lachen!

Ich weiß nicht, seufzte sie. – Ach, ich mag nicht mehr.

Ob Hofbühne oder Schmiere – ’s ist ein Sklavenleben. Bringen Sie mich nach Capri und lassen Sie mich mit beiden Füßen im Mittelländischen Meer baumeln, frei wie ein Fisch – und ich schenk’ Ihnen die ganze Kunst!

Um Gotteswillen! rief Rudolf aus. Er machte ein so erschrockenes, geistverlassenes Gesicht, daß Thea plötzlich laut und von Herzen lachte.

Ja, ja, wiederholte sie, ich schenk Ihnen die ganze Kunst! – – Aber nun lassen wir die dumme Geschicht’. Wir können’s ja nicht ändern. Verachten Sie mich geschwind a bissel, weil ich so wenig Herz hab’ für meine „heilige“ Kunst – und dann lassen Sie uns von ’was anderm reden. Wahrhaftig, ich sitz’ hier und er steht noch immer. Gelt, das ist ’ne feine Dame! die hat Lebensart! – Setzen Sie sich auf den Stuhl; bitt’ schön. Armer Herr Rudolf: da erschüttr’ ich Ihr gutes Herz mit meinem Theaterelend. Und Sie sind noch so jung – und so ideal. Wie lieb schau’n Sie einen an. Unser Bogenlaufen – das war schön … Werd’ ich’s lernen, Meister?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_502.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)